Zehn Tage habe ich Tagebuch geschrieben. Das Folgende ist
privater als vieles andere, was hier auf dem Blog bislang zu lesen war. Weil es
mich aber unheimlich viel Kraft kostet, Gespräche darüber zu führen und ich
mich bei einer Handvoll Menschen, die mir wichtig sind, schon eine Weile nicht
mehr gemeldet habe, veröffentliche ich diesen neuen Einblick in meine Tagesabläufe
und Gedanken (ohne noch einmal Korrektur zu lesen, ich entschuldige mich im
Vorfeld für Komma- und Rechtschreibfehler).
15. Mai 2021
Nach drei furchtbaren Tagen bleibe ich heute einfach wieder
liegen. Schlafen ist mit Abstand das Schönste am Leben, stelle ich fest und
korrigiere sofort gedanklich: das Angenehmste. Leider ist Schlafen, so richtig
tief und fest und lange schlafen, auch gar nicht so einfach. Nicht, wenn man ernsthaft
versucht, 10 / 12 / 14 Stunden zu schlafen. Da stößt selbst der müdeste Geist
an seine Grenzen. Und durch das viele Liegen bekomme ich Rückenschmerzen.
Die Folge: Ich liege wach. Mal am späten Abend, mal mitten
in der Nacht, mal am frühen Morgen und meistens dann irgendwann tagsüber. Und
wachliegen bedeutet: nachdenken und weinen. Und weinen und nachdenken. Manchmal
frage ich mich, wieviel Tränenflüssigkeit mein Körper eigentlich produzieren
kann. Ob es da irgendeine Grenze gibt. Wo das ganze Zeug nur herkommt.
Stundenlang liege ich im Bett. In der Hoffnung, mich
abzulenken, lasse ich Podcasts oder Youtubevideos oder einen Fernseh-Stream
laufen. Wenn es gut läuft, schlafe ich darüber wieder ein. Entfliehe den
Gedankenkreisen. Im Halbschlaf habe ich zwar wirre Träume, aber sie sind
allemal leichter zu ertragen als diese ständigen Gedankenkreise.
Ich möchte sterben. Ich lebe mit diesem Gedanken seit
Wochen, seit Monaten. Es ist der erste Gedanke am Morgen und der letzte am
Abend. Tagsüber zu zählen, lohnt sich nicht. Ich wünsche mir nichts mehr – es
scheint mir die einzige Lösung. Die Erlösung. Und während ich das schreibe,
muss ich wieder bitterlich weinen.
Ich glaube nicht mehr daran, dass es eine andere Lösung
gibt. Weil das alles nur Symptome einer tiefen inneren Unzufriedenheit sind. Weil
ich nicht damit klarkomme, ich zu sein. Weil ich tagtäglich in den Spiegel
blicke und mich abgrundtief hässlich fühle. Weil es keine angenehmen
Beschäftigungen gibt. Es gibt sie nicht! „Aber du hattest doch Spaß bei …“,
„Aber du warst doch glücklich bei …“ … Nein. Es gibt Momente, in denen die Zeit
etwas schneller vergeht. Aber das ist auch schon alles. Jeder Tag ist eine
unglaubliche Anstrengung. Ein unglaublicher Kampf. Jeder Tag ist mit
unglaublichem Leid verbunden. Es gibt keine Lösung.
16. Mai 2021
Auf einer Skala von
10 bis ins unermesslich Negative geht es mir heute – das kann ich klar sagen –
noch schlechter als gestern. Dass ich erneut liegen bleibe, ist wenig
überraschend. Konstantin Wecker singt (in einem wohl völlig anderen Kontext):
„Doch bleib nicht liegen, denn sonst brennt sich etwas fest in deinem Hirn, was
dir irgendwann den Mut zum Atmen nimmt. Und auf einmal prägt dir einer dieses
Zeichen auf die Stirn, das die Wege, die du gehen willst, bestimmt.“ Das war
lange Zeit eine Hymne, mich irgendwie aufzuraffen, aber heute denke ich nur:
Welchen Weg will ich schon gehen? Ich sehne mich nur noch danach, dass alles
vorbei ist. Dass ich das alles nicht mehr ertragen muss. Und so liege ich
weiter da und weine und weine …
In den letzten Tagen
höre ich eine Folge nach der anderen „In extremen Köpfen“. Jeder Mensch ist
anders, „normal sein“ – das gibt es nicht. Aber es gibt Menschen, die im
Extrembereich der Psyche, d. h. so weit weg von der Norm leben, dass es
auf den ersten Blick unbegreiflich erscheint. Mit solchen Menschen spricht der
Psychologe Dr. Leon Windscheid in seinem Podcast. Und beim genaueren Hinsehen
erkennt man, dass sich im Extremen der Psyche Antworten auf die ganz eigenen
Fragen des Lebens verstecken können. Ich höre Interviews mit Menschen, die
kämpfen oder gekämpft haben mit Drogenabhängigkeiten, Traumata,
Persönlichkeitsstörung, allgemein schweren psychischen Störungen und erkenne
mich in ihren Erzählungen immer wieder selbst. Gleichzeitig hilft mir der
Podcast hin und wieder für eine Weile, mich von den eigenen Problemen
abzulenken. Einzutauchen, in die Welt der anderen. Die Geschichten sind
dramatisch, gruselig, angsteinflößend, aber gleichzeitig derart fesselnd, dass ich wie gebannt zuhöre und erst im Anschluss an die Albträume denke, die sie in den
kommenden Nächten hervorrufen könnten.
Nicht alle
Interview-Partner*innen sind zum Zeitpunkt der Aufnahme „frei“, im Sinne von
„geheilt“ (wobei ein ums andere Mal darauf hingewiesen wird, dass viele
psychische Störungen immer Teil der eigenen Persönlichkeit bleiben werden und
es eine lebenslange Aufgabe ist, sie in Schach zu halten). Die meisten haben
aber Mittel gefunden, mit ihrer Bürde zu leben. Es sollte mir Hoffnung machen. Aber
die Wege, die sie bis dahin gehen mussten, sind nicht gerade einladend. Klar:
eine einfache Lösung gibt es nicht. Der Lösungsweg ist verdammt schwer (zu
finden und zu beschreiten). Aber für diese Menschen (die meisten zumindest) gab
es ihn dann doch. Auch wenn er sich erst ein Schritt vor dem Abgrund oder gar
nach dem völligen Absturz erst aufgetan hat. Vielleicht stehe ich einfach noch
nicht nah genug davor.
17. Mai 2021
Der Wecker klingelt und ich muss aufstehen. Ich habe einen
Termin, heute führt kein Weg dran vorbei. Es ist unglaublich mühsam und ich
drücke x mal die Schlummertaste, aber schließlich gelingt es dann doch
irgendwann. Ich nehme die S-Bahn, erledige, was zu erledigen ist, und stapfe
dann durch die Stadt zurück nach Hause. Kopfhörer auf, Podcast an, und einfach
nur einen Schritt vor den anderen setzen. Das kriege ich gerade noch hin.
Ich höre weiter „In extremen Köpfen“ und lerne, was ich
eigentlich lange schon weiß, schon tausend mal gehört oder gelesen habe.
Jenseits der Norm, sind die Kontraste schärfer. Jenseits der Norm erkennt man
Muster, die vorher verschwommen waren: Schwarz oder weiß, gut oder böse,
himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Diese Antonyme kennt jeder, doch wie
kann es passieren, in dem einen oder dem anderen Extrem gefangen zu sein?
Der französische Philosoph Alain Ehrenberg postulierte in
seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ schon vor über 30 Jahren, dass das Leben in
unserer Gesellschaft so anstrengend ist, dass es im Grunde nur zwei
Möglichkeiten gibt, darauf zu reagieren: Sucht oder Depression. „oder“? Mich
beschäftigt BEIDES seit Jahren und während die Therapie irgendwo immer mehr auf
das eine oder das andere abzielte, denke ich heute: Vielleicht habe ich bislang
einfach versäumt, mich näher mit den Zusammenhängen zu beschäftigen?
Alle Drogen haben eines gemeinsam. Sie aktivieren das
Belohnungssystem im Gehirn. In unserem Kopf werden dann Botenstoffe aktiv – vor
allem das Dopamin – die sich sehr sehr gut anfühlen. Wozu führt das? Unser
Verhalten wird verstärkt. Unser Gehirn fragt sich: „Was habe ich gerade
gemacht, um dieses unglaublich gute Gefühl auszulösen?“ Und davon macht man
dann mehr. Und vor allem – und das ist das Gefährliche – entstehen, sobald das
Belohnungssystem aktiviert ist, starke Erinnerungen. Sie führen dazu, dass man die
Droge immer wieder, immer häufiger, immer intensiver konsumiert.
Süchtige vernachlässigen infolgedessen Dinge, die
normalerweise das Belohnungssystem aktivieren würden, wie z. B. Sport, soziale
Kontakte, etc. Denn nichts von diesen natürlichen Aktivatoren kommt irgendwie
an das Gefühl heran, dass die Droge auszulösen scheint. Zwar wirken Drogen sehr
unterschiedlich, aber typischerweise aktivieren alle das Belohnungssystem so
lange, bis wir buchstäblich „high“ sind. Was sich verändert, ist der Bewusstseinszustand.
Oft steht mit der Sucht in Verbindung, dass die Realität, in der wir uns gerade
befinden, nicht wirklich „schön“ ist und die Substanz wie ein Hintertürchen
scheint. Ein Ausweg, der einen vergessen macht und all das Schreckliche da
draußen unterdrückt. Eine Depression kann eine Sucht auslösen – oft ist es aber
umgekehrt.
Denn zwischen jedem Konsum der Droge findet – wenn auch im
Kleinen – ein Entzug statt. Und Entzug ist wie die Wirkung der Droge – nur ins
Gegenteil gespiegelt. Während die Droge gegen stärkste Schmerzen wirkt, sind
Menschen, die einen Entzug machen, von diesen Schmerzen plötzlich gepeinigt.
Und zwar vermeintlich ohne dass es dafür äußere Gründe gibt. Ohne, dass sich im
Äußeren grundlegend etwas geändert – den Schmerz ausgelöst hat.
Und so scheint es mir gerade zu gehen. Rückblickend
betrachtet: nicht das erste Mal. Ich habe meine Sucht einigermaßen im Griff.
Aber ich bin schlecht gewappnet, die Entzugserscheinungen zu ertragen. Dinge,
die dabei früher Halt boten, ein Netz, dass mich auffangen konnte, fehlen
gerade. Struktur, sinnstiftende Aufgaben, die nicht über- aber auch nicht
unterfordern, Feedback bzw. Bestätigung der eigenen Selbstwirksamkeit,
vielleicht aber auch einfach nur die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen und zu
entspannen.
So ist gerade jeder Tag eine unglaubliche Anstrengung, ein
unglaublicher Kampf, mit unglaublichen Schmerzen verbunden. Wir nennen es
„schwere Depression“, aber vielleicht sind es doch einfach „nur“
Entzugserscheinungen. Und die Sucht hängt wie eine dunkle Wolke über mir und
droht, jeden Moment mit Blitz und Donnergroll wieder über mich herein zu
brechen. Das möchte ich unbedingt vermeiden.
Es gibt viele Gründe, Abhängigkeiten zu entwickeln und
rückfällig zu werden und sie können sich sehr zwischen Betroffenen
unterscheiden. Aber einige gemeinsame Muster lassen sich finden. Ein häufiger
Grund ist Stress, also Belastung, auf die wir gefühlt keine Antwort kennen. Im
resultierenden Zustand der Überforderung wird die gewohnte bzw. erlernte
Selbstkontrolle plötzlich viel anstrengender, kostet viel mehr Kraft. Die Droge
verspricht Befreiung. Stress, Ängste und Sorgen, depressive Anspannungen, … all
das BElastet, während die Droge entlastet.
Ich weiß allzu gut, dass diese Entlastung nur von kurzer
Dauer ist. Ein leeres Versprechen. Eine Mogelpackung. Angst habe ich also
weniger vor Rückfällen, sondern mehr davor, dass die aktuelle Last immer
schwerer wird. Bei meiner Reflektion der Zusammenhänge wird mir klar, dass die
Sucht zuerst da war und ich frage mich, ob die Depression vermeidbar gewesen
wäre. Hätte es einen anderen Weg gegeben, der nicht im Teufelskreis aus
wechselseitiger Auslösung und Verstärkung endet? Diese Frage kann ich mir heute
nicht beantworten. Aber es ist auch egal, denke ich mir, denn jetzt, wo mich
beides plagt, geht es nur darum, irgendwie aus diesem Teufelskreis
auszubrechen.
19. Mai 2021
Vorgestern schrieb ich noch, ich habe keine Angst vor
Rückfällen. Irgendwann in der Nacht von gestern auf heute war dann klar, dass
ich heute doch wieder einen Rückfall haben werde. Denn – was ich gestern nicht
ausgeführt habe – die Droge hilft „zu funktionieren“.
Die meisten Menschen, die schon einmal so einen richtigen
Rausch erlebt haben, können sich wohl kaum vorstellen, in diesem Zustand zu
arbeiten. Die Wahrheit ist: Unzählige Menschen arbeiten tagtäglich unter dem
Einfluss von bewusstseinsverändernden Substanzen. Die sog. Kaffee-Junkies gibt
es in jeder Firma. „Ich kann nicht arbeiten, ohne meinen Kaffee.“ –
gesellschaftlich vollkommen akzeptiert. Rauchen ist da mittlerweile schon etwas
verpönter, aber die Raucherpause bleibt einem Raucher trotzdem in kaum einem
Unternehmen verwehrt. Der Konsum von Alkohol oder noch härteren Droben, wie
Heroin, Kokain/Crystal Meth u. Ä. während der Arbeit ist im Gegensatz dazu
ein Tabu. Und trotzdem gibt es Menschen, für die er zum Alltag gehört. Die ohne
nicht können. Und die genau das unglaublich gut verstecken können. Es mag
surreal erscheinen, dass Menschen unter dem Einfluss solcher Substanzen
arbeiten können. Tatsächlich gibt es aber Menschen, die nicht (mehr) ohne
können.
Nachdem ich die letzten Tage kaum vorangekommen bin, wuchs
der Druck, die Anspannung, die Ungeduld, die Unzufriedenheit. Ich schäme mich
für den Rückfall, ich fühle mich hundsmiserabel danach, aber immerhin – und das
ist weder ein schwacher Trost noch eine gute Entschuldigung – bin ich mal
wieder einen Tag konzentriert bei der Sache gewesen. Habe etwas geschafft.
Etwas, an dem ich ohne diesen scheinbaren Kontrollverlust in meinem derzeitigen
Zustand sicher noch 3 bis 5 Tage gesessen hätte. Zeit, die ich nicht habe, weil
Fristen einzuhalten sind, die ich nicht beeinflussen kann.
Das Resultat ist, dass ich am Ende des Tages erleichtert und
zufrieden bin. Genau das, was nach so einem furchtbaren Rückfall nicht
passieren sollte. Weil es nur wieder die falschen Synapsen im Gehirn befeuert.
Das Belohnungssystem in die falsche Richtung laufen lässt. Die, aus der es
keinen anderen Ausweg gibt, außer die Droge weiter zu konsumieren. Oder halt
wieder im Bett liegen zu bleiben. Und das – ich kenne es nur allzu gut – steht
mir morgen wieder bevor.
20. Mai 2021
Die Geschichte (siehe 15. Mai) wiederholt sich. Ich bleibe
liegen. Katerstimmung. Den Wecker habe ich gar nicht erst gestellt. Um 11 Uhr
15 wache ich das erste Mal auf. Der Lärm von der Baustelle am Ende der Straße
dringt durch mein Fenster. Außerdem scheint die Sonne herein, die ich mal
wieder verfluche in diesem Moment, in dem ich doch einfach nur weiterschlafen
möchte.
Ich schließe die Fenster und ziehe das Rollo herunter.
Besser. Einschlafen kann ich erst einmal trotzdem nicht. Am Handy lese ich ein
paar Spiegel Online Artikel, schaue dann einige Youtube Videos und schlafe
irgendwann darüber wieder ein. Ein Hoch auf die „Abspielen nach 30 Minuten
automatisch stoppen“ Funktion.
Beim nächsten bewussten Wachwerden ist es schon fast 15 Uhr.
Jetzt beginne ich doch zu überlegen, was der Tag noch bringen soll. Das Wetter
ist eigentlich okay. Eine Runde auf dem Rennrad? Oder nur Spazieren gehen? Auf
dem Schreibtisch liegen Postkarten, die eingeworfen werden müssen und um 16 Uhr
wird der nächstgelegene Briefkasten geleert. Die heutige Leerung noch
abzupassen und ein Ankommen der Karten vor Pfingsten zu gewährleisten,
motiviert mich, mich aufzuraffen.
Beim Radfahren sortiere ich meine Suizid-Gedanken. Das sage
ich jetzt einfach mal frei heraus. Ich habe schon lange Suizid-Gedanken. Mal
mehr, mal weniger intensiv. Mal mehr, mal weniger konkret. In Gedanken habe ich
diverse Szenarien durchgespielt. Und unzählige Abschiedsbriefe formuliert. Das
sind dann die Momente, in denen mir sehr zuverlässig die Tränen kommen. Der
Gedanke, meiner Familie dieses Schicksal zuzumuten, hält mich von allem ab. Ich
gucke Dokumentarfilme, in denen Menschen sterben und will selbst nicht mehr
sterben, weil im Film diejenigen zu sehen sind, die zurückbleiben mussten.
Und trotzdem denke ich: Das kann es doch nicht sein? Ich
kann nicht nur für andere leben. Die meiste Zeit bin ich sowieso alleine. Woher
kommt dieser Anspruch, dieser Gedanke: Wenn du nicht mehr lebst, will ich auch
nicht mehr leben. So sagt man es mir und ich empfinde das durchaus als emotionale
Erpressung. Darf man das sagen? Das eigene Dasein vom Dasein anderer abhängig
machen?
Und wenn ich offen und ehrlich bin, dann höre ich immer
immer wieder: Du musst dir Hilfe holen. Und das schürt in mir eine Mischung aus
Ärger und Verzweiflung. Ärger, weil es ja nun wirklich nicht so ist, als hätte
ich nie versucht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als hätte ich nicht schon
diverse Therapien und Therapieversuche hinter mir. Verzweiflung, weil es viel
zu einfach klingt. Noch einmal mit Nachdruck: Viel zu einfach!
Mit Unterstützung habe ich in den letzten Tagen
Kontaktadressen von knapp 15 Psychiater*innen gesammelt. Die erste Hürde. Die
zweite Hürde: Anrufen. Das Handy nehmen, die Nummer wählen – ja, das kann eine
große Herausforderung sein. Die dritte Hürde: Durchkommen. Oft beschränken sich
die telefonischen Sprechzeiten auf knappe Zeitfenster und insbesondere die
frühen Morgenstunden. Nicht gerade meine Zeit. Je kürzer die Sprechzeit, desto
höher die Wahrscheinlichkeit für eine belegte Leitung. Die vierte und größte
Hürde: Einen Termin vereinbaren. „Tut mir leid, aber wir können momentan keine
neuen Patient*innen aufnehmen. Alles Gute für Sie.“ Danke. Tschüss. Und wieder
fließen die Tränen.
Irgendwann wurde mir dann doch noch ein Termin angeboten,
nachdem es zuerst hieß „frühestens im Juli“. Aber meine Hoffnung, dass dies nun
grundlegende Veränderungen einleiten wird, hält sich in Grenzen. Die
Unzufriedenheit, die Erschöpfung, der tägliche Kampf – es gibt kein Mittel, das
schnelle Erlösung verspricht. Erlösung verspricht für mich nur das Ende von
allem. Und Linderung? Ich weiß es nicht. Die Hoffnung ist klein, sehr klein.
Und wenn ich nun nächste Woche zur Ärztin fahren werde, dann sicher auch, um
mir nicht weiter sagen zu lassen: Du musst dir Hilfe holen. Ob das nun die
richtige Motivation ist, steht natürlich auch in den Sternen.
21. Mai 2021
Mein Vater ist beruflich in Berlin. Wie so oft denke ich, es
wäre ‚gut‘ sich zu verabreden. Eine kleine Unternehmung, ein gemeinsamer
Spaziergang, ein wenig Begegnung, ein wenig Ablenkung. Aber auch das ist wieder
eine Herausforderung: Planen, Entscheidungen treffen, aufraffen, … Dazu kommt:
Wer den halben Tag im Bett liegt, muss mit dem Rest der Zeit gut haushalten.
In meinem Kalender stehen zwei Termine: eine Besprechung um
15 Uhr und Nachhilfe von 16 bis 18 Uhr. Ich denke über ein Treffen am Vormittag
nach, merke aber schnell, dass mir ein dritter Termin zu viel zu sein scheint
und ich den Vormittag lieber für eine Rennradrunde nutzen möchte. Also kein
Treffen? Ich bin im Zwiespalt. Dann habe ich Glück und meine Nachhilfeschülerin
bittet um Verschiebung der Nachhilfe aufs Wochenende. Mein Vater kommt mir
entgegen und fährt nach Zehlendorf. Ich mache mich direkt im Anschluss an den
15 Uhr Termin – eine Videokonferenz – auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt. Der
Spaziergang ist schön. Es gefällt mir, anderen meine Umgebung zu zeigen, die an
vielen Ecken so gar nicht typisch Großstadt ist.
Am Abend sitze ich dann wieder am Computer. Und komme – auch
ohne extremen Substanzmissbrauch – gut mit der Arbeit voran. Die
nachmittägliche Besprechung war produktiv, die Zu(sammen)arbeit hilfreich. Ich
kann anknüpfen einen wichtigen Teilschritt im Arbeitsprozess um kurz vor
Mitternacht abschließen. Zum ersten Mal seit Tagen fühle ich mich wirklich
befreit. Ich bin dankbar.
In fünf Tagen fahre ich nach Freiburg, um meine Tante zu
besuchen. Die letzten Tage grauste es mir vor der Reise. Nicht, weil ich meine
Tante und ihren Mann nicht gerne treffen möchte, aber angesichts der
Anstrengung, die damit verbunden sein wird. Die Tasche packen, die lange
Zugfahrt, das Einlassen auf die soziale Interaktion und die veränderte
Umgebung, das Aufgeben der eigenen Strukturen. Ich weiß, dass ich keine Angst
haben muss. Ich bin mir sicher, dass ich ehrlich sein kann, dass mir
respektvoll und unterstützend begegnet wird, dass ich mich nicht verstecken und
mich nicht „zusammenreißen“ muss. Und trotzdem habe ich diese Sorgen und immer
wieder das Gefühl, am liebsten im Bett liegen zu bleiben und mir die Decke über
den Kopf zu ziehen.
Aber am Ende des Tages stelle ich heute auch fest, dass ein
großer Teil der Sorgen mit dem Gefühl verbunden war, die soeben fertig
gestellte Arbeit mit im Gepäck zu haben. Und dass ich mich jetzt, wo ich diesen
Arbeitsschritt fertig gestellt habe, viel besser auf die Reise einstellen kann.
22. Mai 2021
Die ansatzweise positive Stimmung von gestern hält noch ein
wenig an. Trotzdem ist und bleibt die Strategie: erstmal liegen bleiben. Zumal
sich schon wieder so ein nerviges windiges Schauerwetter ankündigt. Radfahren
möchte ich bei diesem Wetter nicht, aber Bewegung brauche ich trotzdem. Ich
muss ein paar Einkäufe und Botengänge erledigen und entscheide mich, am
Nachmittag zu Fuß loszuziehen. Das klappt dann auch ganz gut, ich bin fast vier
Stunden unterwegs, sitze am Abend wie gewohnt am Schreibtisch verbuche den Tag
als „ohne Zwischenfall“.
23. Mai 2021
Die Nacht von Samstag auf Sonntag ist mal wieder nervtötend.
Ich liege wach bis ca. 3 Uhr und wache dann im Zwei-Stunden-Rhythmus wieder
auf. Keine Chance, zur Ruhe zu kommen. Die Gründe für diese schlaflosen Nächte
sind vielfältig. Einerseits das lange Rumliegen tagsüber, andererseits die
ständigen Gedankenspiralen, diese Nacht vor allem ein furchtbares Körpergefühl.
Die nächste Baustelle, die im Argen liegt. Seitdem mich die
letzte Therapie vor ca. zwei Jahren zum Zunehmen gebracht hat, ohne mich auch
nur ansatzweise dabei zu unterstützen, mit der Gewichtszunahme zurecht zu
kommen, fühle ich mich sehr unwohl. Das sind auch alles sehr paradoxe Gefühle.
Vor ein paar Jahren habe ich mich mit demselben Körpergewicht sehr wohl
gefühlt. Da habe ich zuvor aber mehr gewogen. Jetzt, wo ich zuvor weniger wog,
fühle ich mich unwohl. Es ist allein die Relation zu einem früheren Zustand,
die das Gefühl bestimmt. Frei nach Kierkegaard: Wenn du beginnst zu
vergleichen, beginnt das Leiden. Oder im O-Ton: Das Vergleichen ist das Ende
des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit. Gesellschaften mit weniger
sozialen Vergleichen, sind glücklicher, das konnte in wissenschaftlichen
Studien bestätigt werden.
Ich vergleiche mich gar nicht so sehr mit anderen, sondern
vielmehr mit einem anderen „Ich“. Mal mit einem realen früheren Ich, mal mit
einer Art Idealvorstellung. Beides toxisch in Bezug auf die Herausforderung, mich
im Hier und Jetzt anzunehmen. Was ich dagegen machen kann, außer prähistorischen
Zuständen nachzueifern, die ich aus diversen Gründen nicht mehr erreichen
werde, weiß ich nicht. In Bewegung kommen, hilft kurzfristig, ist aber leider eine
nicht viel weniger große Herausforderung.
In diesem Sinne bleibe ich nach der schlaflosen Nacht wieder
bis zum Nachmittag liegen. Ich bin genervt. Tag für Tag geht alles irgendwie
weiter, aber es gibt keinen Spaß, keine echte Freude, keine Zufriedenheit. Um
15 Uhr steht dann noch die am Freitag verschobene Nachhilfe auf dem Programm.
Lust habe ich nicht, weiß aber, dass es mir danach etwas besser gehen wird. Außerdem
ist das heute die vorerst letzte Stunde – am Mittwoch steht noch die mündliche
Abiturprüfung an, dann ist das Kapitel für meine Nachhilfeschülerin
abgeschlossen.
Die Nachhilfe belebt tatsächlich ein wenig. Auf
dem Heimweg bin ich sogar in der Stimmung, ein Telefonat zu führen. Das ist
selten. Der Abend birgt keine weiteren Überraschungen.
24. Mai 2021
Die Schlaflosigkeit manifestiert sich. Hurra, noch ein
Problem. Ich toppe den Wert von gestern, liege bis 4 Uhr wach und teile mein
Leid mit einem Freund, dem es ähnlich geht. Geteiltes Leid ist halbes Leid? Was
für ein blödsinniger Spruch. Geteiltes Leid ist mindestens doppeltes Leid.
Gepaart mit einem Quäntchen Hilflosigkeit, weil man sich das Leid gegenseitig
nicht nehmen kann. Der mich dann irgendwann doch einholende Schlaf ist mehr als
unruhig, wieder werde ich alle zwei Stunden wach und bin tagsüber entsprechend
übermüdet.
Um 15 Uhr 30 quäle ich mich aus dem Bett, drehe eine Runde
auf dem Rennrad und bin dankbar über das heute stabile Wetter. Beim Radfahren
sortiere ich wie so oft die Gedanken. Immer wieder denke ich in den letzten
Tagen und Wochen darüber nach, einfach ins Krankenhaus zu fahren und um eine
Aufnahme zu bitten. Das nächste Krankenhaus mit 24h besetzter Notaufnahme für „Krisensituationen“
ist nicht weit entfernt. Und manchmal wünsche ich mir, „man“ (wer auch immer
das ein soll), würde mich einfach dort hinschicken.
Die Sehnsucht nach Krankenhaus ist keine Sehnsucht nach
einer psychiatrischen oder psychosomatischen Behandlung. Es ist vielmehr die
Sehnsucht, einfach im Bett liegen zu können. Natürlich kann ich das auch
zuhause, aber zuhause ist es immer mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit
verbunden, weil ich weiß, dass „normale“ Menschen nicht den ganzen Tag im Bett
liegen. Im Krankenhaus gibt es hingegen Hunderte, die nicht anderes tun. Ich wäre
in bester Gesellschaft.
Ja, das klingt zynisch und ich möchte wahrlich niemanden mit
einer ernst zu nehmenden Krankheit zu nahetreten oder Krankheiten generell
bagatellisieren. Aber ich verspüre oft Neid gegenüber „richtig“ kranken
Menschen. Richtig, im Sinne von körperlich. Diesen blöden Knacks an der Psyche,
den sieht man eben nicht. Der ist nicht greifbar. Der führt dazu, dass ich –
sobald ich offenlege, dass ich den ganzen Tag im Bett liege – nicht selten gefragt
werde: Warst du heute ein bisschen draußen? Konntest du dich noch aufraffen?
Mach doch wenigstens einen kleinen Spaziergang oder eine Radtour. Komm doch mal
wieder vorbei. Auch hier möchte ich niemandem zu nahetreten, niemanden
kritisieren. Ich weiß, dass all diese Fragen und Aufmunterungsversuche gut
gemeint sind. Und sicherlich auch schon das ein oder andere Mal in ähnlicher
Form angesichts ähnlicher Situationen, die andere betrafen, auch mir über die
Lippen gekommen sind. Aber wenn ich mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus ans
Bett gefesselt wäre, käme man nicht auf den Gedanken, mir einen Spaziergang vorzuschlagen.
Und oft fühle ich mich genauso. Bleischwer, ans Bett gefesselt. Regungslos, wie
paralysiert. Wenn dann z. B. die Wiedergabe von einem Video am Handy stoppt,
starre ich minutenlang auf den schwarzen Bildschirm, weil ich den Arm nicht
heben kann.
Ich tagträume davon, einen Unfall zu haben. Beim Radfahren: ein
Stein auf der Straße oder ein Stöckchen zwischen den Speichen, ein heftiger
Aufprall und schwarz vor Augen. Oder ein falscher Tritt auf der Treppe. Oder
eine richtig schlimme Grippe. Ja, dieser Gedanke ist schrecklich in einer Zeit,
in der das Corona-Virus die Welt noch immer in Schach hält und täglich tausende
Menschen daran versterben. Ich schäme mich sehr dafür, aber ich habe ja nun die
Woche der Ehrlichkeit ausgelobt und deswegen schreibe ich auch diesen Gedanken
auf. Ein paar Wochen im Krankenhaus liegen. Einfach mal auf PAUSE drücken.
Nichts machen können und vor allem nichts machen müssen. Keine Erwartungen, die
es zu erfüllen gilt.
Morgen ist der Termin bei der Psychiaterin. Ich kenne die
Situation dieser Anamnese-Gespräche, ich habe schon mehr als ein Dutzend von
ihnen geführt. Hinterher bleibt immer das Gefühl, höchstens die Hälfte von dem
gesagt zu haben, was wichtig gewesen wäre. Eine Liste könnte hilfreich sein.
Wie gut, dass ich eine Woche Tagebuch geführt habe. Ich notiere:
Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit, Suizidgedanken, Depressionen,
Hoffnungslosigkeit, stoffgebundene Sucht, stoffungebundene Sucht. Eine lange
Liste. Aber auch ganz viel Teufelskreis. Und vielleicht – und das ist zumindest
so ein ganz ganz schwacher Hoffnungsschimmer am Horizont – hilft es auch schon,
ein Problem zu lösen oder ein Symptom loszuwerden und auf positive
Synergieeffekte, aka ein Durchbrechen des Teufelskreises zu hoffen. Und so will
ich dem Termin zumindest eine Chance geben. Eine von vielen.