Montag, 28. März 2016

Lebenszeichen - In Bewegung

Ca. 100 km habe ich am Osterwochenende auf dem Rad verbracht, etwa 40 weitere zu Fuß zurück gelegt. Vor etwas weniger als einem Jahr, bin ich nach einer über sechsmonatigen Zwangspause das erste mal wieder Rennrad gefahren. Mehrere Tausend Kilometer haben Renn- und Tourenrad seitdem zurückgelegt. Vom nordöstlichsten Eck Deutschlands - Usedom - bis in die südwestliche Ecke des Saarlandes - das Radfahren, die Bewegung, das Vorankommen wurden zu entscheidenden Bestandteilen meiner Entwicklung. Das Wort Genesung möchte ich nicht verwenden, und ob ich mich als „gesund“ bezeichnen würde? Ich weiß es nicht.


„Die Gesundheit des Menschen ist ein (undefinierter) Zustand des körperlichen wie geistigen Wohlbefindens und somit die Nichtbeeinträchtigung durch eine Krankheit.“ Das wichtigste Wort wird ausgeklammert: undefiniert, der Albtraum eines Mathematikers. Ein bekanntes Onlinelexikon bietet dennoch verschiedene Definitionen des Undefinierbaren an, die sich in ihrer Bedeutung mehr oder weniger überschneiden. Das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie schreibt: „Gesundheit wird als mehrdimensionales Phänomen verstanden und reicht über den ‚Zustand der Abwesenheit von Krankheit‘ hinaus.“ Nietzsche findet mit „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“ etwas einfachere Worte mit ähnlicher Aussage.

Was Nietzsche mit „Krankheit“ meint, bleibt offen und auch ich tue mir schwer mit dem Begriff. Versteht man Krankheit als Einschränkung von Gesundheit, so dreht sich die Definition im Kreis. Klar ist jedenfalls, dass Magersucht, Depressionen, Selbstverletzung oder Zwangshandlungen nur Symptome für etwas dahinter stehendes, etwas viel größeres sind. Ich nenne es Leben und behaupte, dass es nicht immer einfach ist. Eher im Gegenteil. Im letzten Jahr habe ich viel über mich gelernt, über Krankheit, Symptome und Ursachen. Viel wichtiger aber sind die Erkenntnisse über Ressourcen und Kraftquellen, die mich auf den Boden der Tatsachen zurückholen, wenn sich Teile von mir in Bereiche bewegen, in denen sie nichts verloren haben. Allen voran meine Familie, dicht gefolgt von Freunden und Bekannten, die zusammen ein soziales Netz bilden, dass die hohe Stabilität bewiesen hat, mich ganz unabhängig vom Körpergewicht aufzufangen. Danach folgen in meinem Fall Glaube, Kreativität und Bewegung.


Ich bin mittlerweile definitiv wieder in der Lage „meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen“, die Symptome, die mich daran gehindert haben, habe ich im Griff. Ich kann wieder Radfahren, Wandern, bin unternehmungslustig und pflege soziale Kontakte. Darüber hinaus gehe ich sogar einer geregelten Beschäftigung nach, so richtig mit festem Arbeitsplatz im Büro, einem bunt gemischten Haufen Kollegen, 40 Stunden Woche und einem monatlicher Betrag auf dem Konto, der die Bezeichnung „Lohn“ verdient und nicht „Taschengeld“ genannt wird. Die Arbeit im Kindergarten war körperlich anstrengend und forderte geistige Aufmerksamkeit. Das FSJ war eine gute Entscheidung und eine wertvolle Erfahrung und der Zeitraum von vier Monaten, die ich „durchgehalten“ habe, zu diesem Zweck vielleicht genau passend. Ich habe eine Menge wunderbare (kleine) Menschen kennen gelernt, der Abschied fiel mir am Ende wesentlich schwerer als zwischenzeitlich gedacht. Noch schwerer fiel mir der Abschied von Berlin, Freunden, Bekannten und meiner WG. Eine passende WG konnte ich nach zwei Monaten Überbrückung auch am neuen Wohnort finden. Minimalistisch, aber äußerst gemütlich habe ich mich dort eingerichtet.


„Man darf sich nicht einrichten.“ war einer der letzten Hinweise, die mir in Berlin mit auf den Weg in fremde Gefilde gegeben wurden. Gemeint war hier aber weniger die Zimmereinrichtung, als die Art der Bequemlichkeit, die es uns schwer macht, aus alten Gewohnheiten auszubrechen, die uns in unbefriedigenden Zuständen verweilen lässt und die uns als Ausrede dient, die Arbeit an uns selber nicht zu forcieren, sondern (weit) hinter Alltag und Routine anzustellen. Mit (eines) anderen Worten (in diesem Fall stammen sie von Bodo Wartke): „Man macht trotz aller Melancholie, so gut es geht im Leben eben irgendwie, zum bösen Spiel gute Miene, funktioniert wie eine Maschine, so kalt in Gestalt von alltäglicher Routine …“ Vielleicht neige ich ein wenig dazu „zu funktionieren“, aber Melancholie und (unbefriedigenden) Routinen habe ich den Kampf angesagt. Ich arbeite an mir und versuche die Situation, in der ich mich befinde, positiv zu beeinflussen. Eingerichtet habe ich mich noch lange nicht.

Es ist viel passiert in den letzten Monaten und ich habe keinen Bruchteil, sondern höchstens ein Bruchteilchen davon hier erwähnt. Für den Moment aber spare ich mir (erspare ich euch?) weitere Worte und lasse zur Ergänzung der oberen wahllos ein paar wild zusammengewürfelte Bilder sprechen. Nicht alles, was ich gerade tue, fühlt sich stimmig oder richtig an und den Baum des Lebens habe ich noch lange nicht bis in den Wipfel erklommen. Aber ich habe das Vertrauen (zurück) gewonnen, dass mein Weg im Großen und Ganzen einen Sinn ergibt und so fühlt sich die momentane Kletterei auf etwa 1/3 der Höhe gar nicht verkehrt an. Und weil ich das schon ganz anders erlebt habe, weiß ich es sehr zu schätzen. Ich habe wieder viele Pläne, Gedanken, Ideen und Ziele und wenn es die (Frei-)Zeit zulässt, möchte ich den Blog wieder nutzen, sie festzuhalten und zu teilen.