Mittwoch, 9. Juni 2021

Ein bisschen Hoffnung

 25. Mai 2021

Fast hätte ich den Termin bei der Psychiaterin sausen lassen. Wieder habe ich eine mehr oder weniger schlaflose Nacht hinter mir, wieder fällt es mir schwer, am Vormittag aufzustehen. Dazu das Wetter: alle 20 Minuten wechselt es zwischen Regenschauer, Hagel, Gewitter und Sonnenschein. Ich hatte mir vorgenommen, mit dem Fahrrad zu fahren, aber ich möchte nicht klatschnass ankommen. Zum Laufen oder eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist es zu spät. Ob ich ein Taxi nehmen sollte? Ich habe in 31 Lebensjahren noch nie ein Taxi bestellt, ich weiß gar nicht, wie das geht.

Aber eigentlich sind das doch auch wieder alles nur Ausreden, rede ich mir ein, und krame die Regenhose raus. Vor der Haustür fallen noch dicke Tropfen, aber nur wenige Meter weiter ist der Himmel hell und ich komme halbwegs trocken bei der Praxis an.

Ich bin wirklich nervös heute und während andere Patientinnen sich über die lange Wartezeit aufregen, bin ich froh drum, noch eine Weile im Wartezimmer sitzen und lesen zu können. Nach knapp einer Stunde werde ich hereingerufen. Die Ärztin macht einen guten Eindruck. Sie ist mir zugewandt, wirkt einfühlsam/verständnisvoll und fachlich kompetent. Sie nimmt sich viel Zeit für das Gespräch, stellt zielgerichtet Fragen und macht sich Notizen. Während ich weinen muss, macht sie kurze Pausen, jedoch nie so lang, dass es unangenehm wird. Ich bin insgesamt froh, den Termin wahrgenommen zu haben und vielleicht war es eine glückliche Fügung, dass gerade in dieser Praxis – die ja auf der Liste der gesammelten Kontaktadressen die einzige war, in der mir überhaupt ein Termin angeboten wurde – geklappt hat.

Natürlich präsentiert die Ärztin keine Lösung auf dem Silbertablett. Und natürlich verändert sich durch den Besuch erst einmal: Nichts. Aber die Ärztin spricht mögliche Interventionen mit mir durch – therapeutisch und medikamentös – und stößt diese auch direkt an. Und das ist das wichtigste, denn dass es theoretisch Behandlungsmöglichkeiten gibt, das ist mir ja vollkommen bewusst.

So gehe ich mit zwei weiteren Terminen bei dieser und einer anderen Ärztin und einem Rezept für ein neues Medikament, das mir vielleicht ein wenig helfen könnte. Keine Soforthilfe, aber vielleicht ein wenig Hoffnung für die kommenden Wochen. Die werde ich schon durchhalten. Die wichtigsten Worte richtet sie zum Abschluss an mich: Sie sind jetzt Patientin in meiner Praxis, d. h., Sie können sich jederzeit melden und vorbeikommen. Und das bringt nun wirklich für den Moment Erleichterung.

 

08. Juni 2021

Mit der Reise nach Freiburg ist meine Tagebuch-Routine eingerissen. Die Tage waren zu ausgefüllt, aber das ist ja auch mal nicht schlecht. Und die Ablenkung, der Tapetenwechsel, die Begegnungen, die tiefen, vertrauten Gespräche überwogen der allgemeinen Anstrengung, die die Reise mit sich brachte. Ich bin also froh, dass ich gefahren bin.

Seit der Rückkehr sind nun acht Tage vergangen, in denen wiederum nicht viel passiert ist. Ich schlafe sehr viel, nachts und tagsüber, und frage mich, woher die ständige Müdigkeit kommt. Die Arbeit an der Dissertation gehe ich erstmal ruhig an. Auch die kleinen Schritte zählen und es muss nicht jeden Tag vorangehen. Ich schaffe es, täglich eine Runde auf dem Rennrad zu drehen oder alternativ Spazieren zu gehen, starte aber meist erst am späten Nachmittag. Einmal aufgerafft, sind das normalerweise ganz angenehme Zeitvertreibe, nur teilweise ziehen sich die Runden wie Kaugummi in die Länge. Dann ist mein Kopf so leer, dass ich ständig an die nächste Kurve denke. Und die nächste. Und die nächste. So kommt es, dass mir die Runde ewig erscheint. Und das Fahrtempo reicht auch nicht gerade an das heran, was ich letztes Jahr noch erreicht habe.

Vielleicht ist es einfach eine gedankliche Müdigkeit, denke ich. Aber vielleicht ist das besser, als ständiges Grübeln und im Negativ-Denken gefangen sein, denke ich weiter. Ob das neue Medikament schon wirkt? Mehr Antrieb habe ich bislang definitiv nicht, aber immerhin habe ich seit zwei Wochen nicht mehr geweint. Das berichte ich dann auch der Psychiaterin, die mich fürs Erste alle zwei bis drei Wochen zur Stippvisite erwartet. Sie scheint zufrieden. Wenn man am Boden liegt, kann man nicht mehr tief fallen. Und wenn man nach oben blickt, sieht man immer ein bisschen Licht.

In Berlin ist der Sommer ausgebrochen und ich habe mir angewöhnt, mich nach dem Radfahren 30 bis 60 Minuten in die Sonne zu legen. Zum Lesen und für den Vitamin D Spiegel. Und an den Abenden liege ich tatsächlich viel am Boden und blicke nach oben. Durchs Fenster oder auf den Computerbildschirm, auf dem abwechselnd Sportfernsehen oder eine Dokumentation läuft. Es gibt keinen Druck von außen und ich mache mir keinen von innen. Zumindest für den Moment nicht.

Die nächste Herausforderung, der ich mich stellen möchte und sollte, ist meine Kontakte wieder besser zu pflegen, Nachrichten schreiben, Telefonate führen, Verabredungen treffen. Aber ich gebe mir Zeit und bin unendlich dankbar über all das Verständnis, was mir in dieser Hinsicht immer wieder entgegen gebracht wird!

Montag, 24. Mai 2021

Alltag: Auszug aus meinem Tagebuch

 

Zehn Tage habe ich Tagebuch geschrieben. Das Folgende ist privater als vieles andere, was hier auf dem Blog bislang zu lesen war. Weil es mich aber unheimlich viel Kraft kostet, Gespräche darüber zu führen und ich mich bei einer Handvoll Menschen, die mir wichtig sind, schon eine Weile nicht mehr gemeldet habe, veröffentliche ich diesen neuen Einblick in meine Tagesabläufe und Gedanken (ohne noch einmal Korrektur zu lesen, ich entschuldige mich im Vorfeld für Komma- und Rechtschreibfehler).

 

15. Mai 2021

 

Nach drei furchtbaren Tagen bleibe ich heute einfach wieder liegen. Schlafen ist mit Abstand das Schönste am Leben, stelle ich fest und korrigiere sofort gedanklich: das Angenehmste. Leider ist Schlafen, so richtig tief und fest und lange schlafen, auch gar nicht so einfach. Nicht, wenn man ernsthaft versucht, 10 / 12 / 14 Stunden zu schlafen. Da stößt selbst der müdeste Geist an seine Grenzen. Und durch das viele Liegen bekomme ich Rückenschmerzen.

Die Folge: Ich liege wach. Mal am späten Abend, mal mitten in der Nacht, mal am frühen Morgen und meistens dann irgendwann tagsüber. Und wachliegen bedeutet: nachdenken und weinen. Und weinen und nachdenken. Manchmal frage ich mich, wieviel Tränenflüssigkeit mein Körper eigentlich produzieren kann. Ob es da irgendeine Grenze gibt. Wo das ganze Zeug nur herkommt.

Stundenlang liege ich im Bett. In der Hoffnung, mich abzulenken, lasse ich Podcasts oder Youtubevideos oder einen Fernseh-Stream laufen. Wenn es gut läuft, schlafe ich darüber wieder ein. Entfliehe den Gedankenkreisen. Im Halbschlaf habe ich zwar wirre Träume, aber sie sind allemal leichter zu ertragen als diese ständigen Gedankenkreise.

Ich möchte sterben. Ich lebe mit diesem Gedanken seit Wochen, seit Monaten. Es ist der erste Gedanke am Morgen und der letzte am Abend. Tagsüber zu zählen, lohnt sich nicht. Ich wünsche mir nichts mehr – es scheint mir die einzige Lösung. Die Erlösung. Und während ich das schreibe, muss ich wieder bitterlich weinen.

Ich glaube nicht mehr daran, dass es eine andere Lösung gibt. Weil das alles nur Symptome einer tiefen inneren Unzufriedenheit sind. Weil ich nicht damit klarkomme, ich zu sein. Weil ich tagtäglich in den Spiegel blicke und mich abgrundtief hässlich fühle. Weil es keine angenehmen Beschäftigungen gibt. Es gibt sie nicht! „Aber du hattest doch Spaß bei …“, „Aber du warst doch glücklich bei …“ … Nein. Es gibt Momente, in denen die Zeit etwas schneller vergeht. Aber das ist auch schon alles. Jeder Tag ist eine unglaubliche Anstrengung. Ein unglaublicher Kampf. Jeder Tag ist mit unglaublichem Leid verbunden. Es gibt keine Lösung.

 

16. Mai 2021

 

Auf einer Skala von 10 bis ins unermesslich Negative geht es mir heute – das kann ich klar sagen – noch schlechter als gestern. Dass ich erneut liegen bleibe, ist wenig überraschend. Konstantin Wecker singt (in einem wohl völlig anderen Kontext): „Doch bleib nicht liegen, denn sonst brennt sich etwas fest in deinem Hirn, was dir irgendwann den Mut zum Atmen nimmt. Und auf einmal prägt dir einer dieses Zeichen auf die Stirn, das die Wege, die du gehen willst, bestimmt.“ Das war lange Zeit eine Hymne, mich irgendwie aufzuraffen, aber heute denke ich nur: Welchen Weg will ich schon gehen? Ich sehne mich nur noch danach, dass alles vorbei ist. Dass ich das alles nicht mehr ertragen muss. Und so liege ich weiter da und weine und weine …

In den letzten Tagen höre ich eine Folge nach der anderen „In extremen Köpfen“. Jeder Mensch ist anders, „normal sein“ – das gibt es nicht. Aber es gibt Menschen, die im Extrembereich der Psyche, d. h. so weit weg von der Norm leben, dass es auf den ersten Blick unbegreiflich erscheint. Mit solchen Menschen spricht der Psychologe Dr. Leon Windscheid in seinem Podcast. Und beim genaueren Hinsehen erkennt man, dass sich im Extremen der Psyche Antworten auf die ganz eigenen Fragen des Lebens verstecken können. Ich höre Interviews mit Menschen, die kämpfen oder gekämpft haben mit Drogenabhängigkeiten, Traumata, Persönlichkeitsstörung, allgemein schweren psychischen Störungen und erkenne mich in ihren Erzählungen immer wieder selbst. Gleichzeitig hilft mir der Podcast hin und wieder für eine Weile, mich von den eigenen Problemen abzulenken. Einzutauchen, in die Welt der anderen. Die Geschichten sind dramatisch, gruselig, angsteinflößend, aber gleichzeitig derart fesselnd, dass ich wie gebannt zuhöre und erst im Anschluss an die Albträume denke, die sie in den kommenden Nächten hervorrufen könnten.

Nicht alle Interview-Partner*innen sind zum Zeitpunkt der Aufnahme „frei“, im Sinne von „geheilt“ (wobei ein ums andere Mal darauf hingewiesen wird, dass viele psychische Störungen immer Teil der eigenen Persönlichkeit bleiben werden und es eine lebenslange Aufgabe ist, sie in Schach zu halten). Die meisten haben aber Mittel gefunden, mit ihrer Bürde zu leben. Es sollte mir Hoffnung machen. Aber die Wege, die sie bis dahin gehen mussten, sind nicht gerade einladend. Klar: eine einfache Lösung gibt es nicht. Der Lösungsweg ist verdammt schwer (zu finden und zu beschreiten). Aber für diese Menschen (die meisten zumindest) gab es ihn dann doch. Auch wenn er sich erst ein Schritt vor dem Abgrund oder gar nach dem völligen Absturz erst aufgetan hat. Vielleicht stehe ich einfach noch nicht nah genug davor.

 

17. Mai 2021

 

Der Wecker klingelt und ich muss aufstehen. Ich habe einen Termin, heute führt kein Weg dran vorbei. Es ist unglaublich mühsam und ich drücke x mal die Schlummertaste, aber schließlich gelingt es dann doch irgendwann. Ich nehme die S-Bahn, erledige, was zu erledigen ist, und stapfe dann durch die Stadt zurück nach Hause. Kopfhörer auf, Podcast an, und einfach nur einen Schritt vor den anderen setzen. Das kriege ich gerade noch hin.

Ich höre weiter „In extremen Köpfen“ und lerne, was ich eigentlich lange schon weiß, schon tausend mal gehört oder gelesen habe. Jenseits der Norm, sind die Kontraste schärfer. Jenseits der Norm erkennt man Muster, die vorher verschwommen waren: Schwarz oder weiß, gut oder böse, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Diese Antonyme kennt jeder, doch wie kann es passieren, in dem einen oder dem anderen Extrem gefangen zu sein?

Der französische Philosoph Alain Ehrenberg postulierte in seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ schon vor über 30 Jahren, dass das Leben in unserer Gesellschaft so anstrengend ist, dass es im Grunde nur zwei Möglichkeiten gibt, darauf zu reagieren: Sucht oder Depression. „oder“? Mich beschäftigt BEIDES seit Jahren und während die Therapie irgendwo immer mehr auf das eine oder das andere abzielte, denke ich heute: Vielleicht habe ich bislang einfach versäumt, mich näher mit den Zusammenhängen zu beschäftigen?

Alle Drogen haben eines gemeinsam. Sie aktivieren das Belohnungssystem im Gehirn. In unserem Kopf werden dann Botenstoffe aktiv – vor allem das Dopamin – die sich sehr sehr gut anfühlen. Wozu führt das? Unser Verhalten wird verstärkt. Unser Gehirn fragt sich: „Was habe ich gerade gemacht, um dieses unglaublich gute Gefühl auszulösen?“ Und davon macht man dann mehr. Und vor allem – und das ist das Gefährliche – entstehen, sobald das Belohnungssystem aktiviert ist, starke Erinnerungen. Sie führen dazu, dass man die Droge immer wieder, immer häufiger, immer intensiver konsumiert.

Süchtige vernachlässigen infolgedessen Dinge, die normalerweise das Belohnungssystem aktivieren würden, wie z. B. Sport, soziale Kontakte, etc. Denn nichts von diesen natürlichen Aktivatoren kommt irgendwie an das Gefühl heran, dass die Droge auszulösen scheint. Zwar wirken Drogen sehr unterschiedlich, aber typischerweise aktivieren alle das Belohnungssystem so lange, bis wir buchstäblich „high“ sind. Was sich verändert, ist der Bewusstseinszustand. Oft steht mit der Sucht in Verbindung, dass die Realität, in der wir uns gerade befinden, nicht wirklich „schön“ ist und die Substanz wie ein Hintertürchen scheint. Ein Ausweg, der einen vergessen macht und all das Schreckliche da draußen unterdrückt. Eine Depression kann eine Sucht auslösen – oft ist es aber umgekehrt.

Denn zwischen jedem Konsum der Droge findet – wenn auch im Kleinen – ein Entzug statt. Und Entzug ist wie die Wirkung der Droge – nur ins Gegenteil gespiegelt. Während die Droge gegen stärkste Schmerzen wirkt, sind Menschen, die einen Entzug machen, von diesen Schmerzen plötzlich gepeinigt. Und zwar vermeintlich ohne dass es dafür äußere Gründe gibt. Ohne, dass sich im Äußeren grundlegend etwas geändert – den Schmerz ausgelöst hat.

Und so scheint es mir gerade zu gehen. Rückblickend betrachtet: nicht das erste Mal. Ich habe meine Sucht einigermaßen im Griff. Aber ich bin schlecht gewappnet, die Entzugserscheinungen zu ertragen. Dinge, die dabei früher Halt boten, ein Netz, dass mich auffangen konnte, fehlen gerade. Struktur, sinnstiftende Aufgaben, die nicht über- aber auch nicht unterfordern, Feedback bzw. Bestätigung der eigenen Selbstwirksamkeit, vielleicht aber auch einfach nur die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen und zu entspannen.

So ist gerade jeder Tag eine unglaubliche Anstrengung, ein unglaublicher Kampf, mit unglaublichen Schmerzen verbunden. Wir nennen es „schwere Depression“, aber vielleicht sind es doch einfach „nur“ Entzugserscheinungen. Und die Sucht hängt wie eine dunkle Wolke über mir und droht, jeden Moment mit Blitz und Donnergroll wieder über mich herein zu brechen. Das möchte ich unbedingt vermeiden.

Es gibt viele Gründe, Abhängigkeiten zu entwickeln und rückfällig zu werden und sie können sich sehr zwischen Betroffenen unterscheiden. Aber einige gemeinsame Muster lassen sich finden. Ein häufiger Grund ist Stress, also Belastung, auf die wir gefühlt keine Antwort kennen. Im resultierenden Zustand der Überforderung wird die gewohnte bzw. erlernte Selbstkontrolle plötzlich viel anstrengender, kostet viel mehr Kraft. Die Droge verspricht Befreiung. Stress, Ängste und Sorgen, depressive Anspannungen, … all das BElastet, während die Droge entlastet.

Ich weiß allzu gut, dass diese Entlastung nur von kurzer Dauer ist. Ein leeres Versprechen. Eine Mogelpackung. Angst habe ich also weniger vor Rückfällen, sondern mehr davor, dass die aktuelle Last immer schwerer wird. Bei meiner Reflektion der Zusammenhänge wird mir klar, dass die Sucht zuerst da war und ich frage mich, ob die Depression vermeidbar gewesen wäre. Hätte es einen anderen Weg gegeben, der nicht im Teufelskreis aus wechselseitiger Auslösung und Verstärkung endet? Diese Frage kann ich mir heute nicht beantworten. Aber es ist auch egal, denke ich mir, denn jetzt, wo mich beides plagt, geht es nur darum, irgendwie aus diesem Teufelskreis auszubrechen.

 

19. Mai 2021

 

Vorgestern schrieb ich noch, ich habe keine Angst vor Rückfällen. Irgendwann in der Nacht von gestern auf heute war dann klar, dass ich heute doch wieder einen Rückfall haben werde. Denn – was ich gestern nicht ausgeführt habe – die Droge hilft „zu funktionieren“.

Die meisten Menschen, die schon einmal so einen richtigen Rausch erlebt haben, können sich wohl kaum vorstellen, in diesem Zustand zu arbeiten. Die Wahrheit ist: Unzählige Menschen arbeiten tagtäglich unter dem Einfluss von bewusstseinsverändernden Substanzen. Die sog. Kaffee-Junkies gibt es in jeder Firma. „Ich kann nicht arbeiten, ohne meinen Kaffee.“ – gesellschaftlich vollkommen akzeptiert. Rauchen ist da mittlerweile schon etwas verpönter, aber die Raucherpause bleibt einem Raucher trotzdem in kaum einem Unternehmen verwehrt. Der Konsum von Alkohol oder noch härteren Droben, wie Heroin, Kokain/Crystal Meth u. Ä. während der Arbeit ist im Gegensatz dazu ein Tabu. Und trotzdem gibt es Menschen, für die er zum Alltag gehört. Die ohne nicht können. Und die genau das unglaublich gut verstecken können. Es mag surreal erscheinen, dass Menschen unter dem Einfluss solcher Substanzen arbeiten können. Tatsächlich gibt es aber Menschen, die nicht (mehr) ohne können.

Nachdem ich die letzten Tage kaum vorangekommen bin, wuchs der Druck, die Anspannung, die Ungeduld, die Unzufriedenheit. Ich schäme mich für den Rückfall, ich fühle mich hundsmiserabel danach, aber immerhin – und das ist weder ein schwacher Trost noch eine gute Entschuldigung – bin ich mal wieder einen Tag konzentriert bei der Sache gewesen. Habe etwas geschafft. Etwas, an dem ich ohne diesen scheinbaren Kontrollverlust in meinem derzeitigen Zustand sicher noch 3 bis 5 Tage gesessen hätte. Zeit, die ich nicht habe, weil Fristen einzuhalten sind, die ich nicht beeinflussen kann.

Das Resultat ist, dass ich am Ende des Tages erleichtert und zufrieden bin. Genau das, was nach so einem furchtbaren Rückfall nicht passieren sollte. Weil es nur wieder die falschen Synapsen im Gehirn befeuert. Das Belohnungssystem in die falsche Richtung laufen lässt. Die, aus der es keinen anderen Ausweg gibt, außer die Droge weiter zu konsumieren. Oder halt wieder im Bett liegen zu bleiben. Und das – ich kenne es nur allzu gut – steht mir morgen wieder bevor.

 

20. Mai 2021

 

Die Geschichte (siehe 15. Mai) wiederholt sich. Ich bleibe liegen. Katerstimmung. Den Wecker habe ich gar nicht erst gestellt. Um 11 Uhr 15 wache ich das erste Mal auf. Der Lärm von der Baustelle am Ende der Straße dringt durch mein Fenster. Außerdem scheint die Sonne herein, die ich mal wieder verfluche in diesem Moment, in dem ich doch einfach nur weiterschlafen möchte.

Ich schließe die Fenster und ziehe das Rollo herunter. Besser. Einschlafen kann ich erst einmal trotzdem nicht. Am Handy lese ich ein paar Spiegel Online Artikel, schaue dann einige Youtube Videos und schlafe irgendwann darüber wieder ein. Ein Hoch auf die „Abspielen nach 30 Minuten automatisch stoppen“ Funktion.

Beim nächsten bewussten Wachwerden ist es schon fast 15 Uhr. Jetzt beginne ich doch zu überlegen, was der Tag noch bringen soll. Das Wetter ist eigentlich okay. Eine Runde auf dem Rennrad? Oder nur Spazieren gehen? Auf dem Schreibtisch liegen Postkarten, die eingeworfen werden müssen und um 16 Uhr wird der nächstgelegene Briefkasten geleert. Die heutige Leerung noch abzupassen und ein Ankommen der Karten vor Pfingsten zu gewährleisten, motiviert mich, mich aufzuraffen.

Beim Radfahren sortiere ich meine Suizid-Gedanken. Das sage ich jetzt einfach mal frei heraus. Ich habe schon lange Suizid-Gedanken. Mal mehr, mal weniger intensiv. Mal mehr, mal weniger konkret. In Gedanken habe ich diverse Szenarien durchgespielt. Und unzählige Abschiedsbriefe formuliert. Das sind dann die Momente, in denen mir sehr zuverlässig die Tränen kommen. Der Gedanke, meiner Familie dieses Schicksal zuzumuten, hält mich von allem ab. Ich gucke Dokumentarfilme, in denen Menschen sterben und will selbst nicht mehr sterben, weil im Film diejenigen zu sehen sind, die zurückbleiben mussten.

Und trotzdem denke ich: Das kann es doch nicht sein? Ich kann nicht nur für andere leben. Die meiste Zeit bin ich sowieso alleine. Woher kommt dieser Anspruch, dieser Gedanke: Wenn du nicht mehr lebst, will ich auch nicht mehr leben. So sagt man es mir und ich empfinde das durchaus als emotionale Erpressung. Darf man das sagen? Das eigene Dasein vom Dasein anderer abhängig machen?

Und wenn ich offen und ehrlich bin, dann höre ich immer immer wieder: Du musst dir Hilfe holen. Und das schürt in mir eine Mischung aus Ärger und Verzweiflung. Ärger, weil es ja nun wirklich nicht so ist, als hätte ich nie versucht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als hätte ich nicht schon diverse Therapien und Therapieversuche hinter mir. Verzweiflung, weil es viel zu einfach klingt. Noch einmal mit Nachdruck: Viel zu einfach!

Mit Unterstützung habe ich in den letzten Tagen Kontaktadressen von knapp 15 Psychiater*innen gesammelt. Die erste Hürde. Die zweite Hürde: Anrufen. Das Handy nehmen, die Nummer wählen – ja, das kann eine große Herausforderung sein. Die dritte Hürde: Durchkommen. Oft beschränken sich die telefonischen Sprechzeiten auf knappe Zeitfenster und insbesondere die frühen Morgenstunden. Nicht gerade meine Zeit. Je kürzer die Sprechzeit, desto höher die Wahrscheinlichkeit für eine belegte Leitung. Die vierte und größte Hürde: Einen Termin vereinbaren. „Tut mir leid, aber wir können momentan keine neuen Patient*innen aufnehmen. Alles Gute für Sie.“ Danke. Tschüss. Und wieder fließen die Tränen.

Irgendwann wurde mir dann doch noch ein Termin angeboten, nachdem es zuerst hieß „frühestens im Juli“. Aber meine Hoffnung, dass dies nun grundlegende Veränderungen einleiten wird, hält sich in Grenzen. Die Unzufriedenheit, die Erschöpfung, der tägliche Kampf – es gibt kein Mittel, das schnelle Erlösung verspricht. Erlösung verspricht für mich nur das Ende von allem. Und Linderung? Ich weiß es nicht. Die Hoffnung ist klein, sehr klein. Und wenn ich nun nächste Woche zur Ärztin fahren werde, dann sicher auch, um mir nicht weiter sagen zu lassen: Du musst dir Hilfe holen. Ob das nun die richtige Motivation ist, steht natürlich auch in den Sternen.

 

21. Mai 2021

 

Mein Vater ist beruflich in Berlin. Wie so oft denke ich, es wäre ‚gut‘ sich zu verabreden. Eine kleine Unternehmung, ein gemeinsamer Spaziergang, ein wenig Begegnung, ein wenig Ablenkung. Aber auch das ist wieder eine Herausforderung: Planen, Entscheidungen treffen, aufraffen, … Dazu kommt: Wer den halben Tag im Bett liegt, muss mit dem Rest der Zeit gut haushalten.

In meinem Kalender stehen zwei Termine: eine Besprechung um 15 Uhr und Nachhilfe von 16 bis 18 Uhr. Ich denke über ein Treffen am Vormittag nach, merke aber schnell, dass mir ein dritter Termin zu viel zu sein scheint und ich den Vormittag lieber für eine Rennradrunde nutzen möchte. Also kein Treffen? Ich bin im Zwiespalt. Dann habe ich Glück und meine Nachhilfeschülerin bittet um Verschiebung der Nachhilfe aufs Wochenende. Mein Vater kommt mir entgegen und fährt nach Zehlendorf. Ich mache mich direkt im Anschluss an den 15 Uhr Termin – eine Videokonferenz – auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt. Der Spaziergang ist schön. Es gefällt mir, anderen meine Umgebung zu zeigen, die an vielen Ecken so gar nicht typisch Großstadt ist.

Am Abend sitze ich dann wieder am Computer. Und komme – auch ohne extremen Substanzmissbrauch – gut mit der Arbeit voran. Die nachmittägliche Besprechung war produktiv, die Zu(sammen)arbeit hilfreich. Ich kann anknüpfen einen wichtigen Teilschritt im Arbeitsprozess um kurz vor Mitternacht abschließen. Zum ersten Mal seit Tagen fühle ich mich wirklich befreit. Ich bin dankbar.

In fünf Tagen fahre ich nach Freiburg, um meine Tante zu besuchen. Die letzten Tage grauste es mir vor der Reise. Nicht, weil ich meine Tante und ihren Mann nicht gerne treffen möchte, aber angesichts der Anstrengung, die damit verbunden sein wird. Die Tasche packen, die lange Zugfahrt, das Einlassen auf die soziale Interaktion und die veränderte Umgebung, das Aufgeben der eigenen Strukturen. Ich weiß, dass ich keine Angst haben muss. Ich bin mir sicher, dass ich ehrlich sein kann, dass mir respektvoll und unterstützend begegnet wird, dass ich mich nicht verstecken und mich nicht „zusammenreißen“ muss. Und trotzdem habe ich diese Sorgen und immer wieder das Gefühl, am liebsten im Bett liegen zu bleiben und mir die Decke über den Kopf zu ziehen.

Aber am Ende des Tages stelle ich heute auch fest, dass ein großer Teil der Sorgen mit dem Gefühl verbunden war, die soeben fertig gestellte Arbeit mit im Gepäck zu haben. Und dass ich mich jetzt, wo ich diesen Arbeitsschritt fertig gestellt habe, viel besser auf die Reise einstellen kann.

 

22. Mai 2021

 

Die ansatzweise positive Stimmung von gestern hält noch ein wenig an. Trotzdem ist und bleibt die Strategie: erstmal liegen bleiben. Zumal sich schon wieder so ein nerviges windiges Schauerwetter ankündigt. Radfahren möchte ich bei diesem Wetter nicht, aber Bewegung brauche ich trotzdem. Ich muss ein paar Einkäufe und Botengänge erledigen und entscheide mich, am Nachmittag zu Fuß loszuziehen. Das klappt dann auch ganz gut, ich bin fast vier Stunden unterwegs, sitze am Abend wie gewohnt am Schreibtisch verbuche den Tag als „ohne Zwischenfall“.

 

23. Mai 2021

 

Die Nacht von Samstag auf Sonntag ist mal wieder nervtötend. Ich liege wach bis ca. 3 Uhr und wache dann im Zwei-Stunden-Rhythmus wieder auf. Keine Chance, zur Ruhe zu kommen. Die Gründe für diese schlaflosen Nächte sind vielfältig. Einerseits das lange Rumliegen tagsüber, andererseits die ständigen Gedankenspiralen, diese Nacht vor allem ein furchtbares Körpergefühl.

Die nächste Baustelle, die im Argen liegt. Seitdem mich die letzte Therapie vor ca. zwei Jahren zum Zunehmen gebracht hat, ohne mich auch nur ansatzweise dabei zu unterstützen, mit der Gewichtszunahme zurecht zu kommen, fühle ich mich sehr unwohl. Das sind auch alles sehr paradoxe Gefühle. Vor ein paar Jahren habe ich mich mit demselben Körpergewicht sehr wohl gefühlt. Da habe ich zuvor aber mehr gewogen. Jetzt, wo ich zuvor weniger wog, fühle ich mich unwohl. Es ist allein die Relation zu einem früheren Zustand, die das Gefühl bestimmt. Frei nach Kierkegaard: Wenn du beginnst zu vergleichen, beginnt das Leiden. Oder im O-Ton: Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit. Gesellschaften mit weniger sozialen Vergleichen, sind glücklicher, das konnte in wissenschaftlichen Studien bestätigt werden.

Ich vergleiche mich gar nicht so sehr mit anderen, sondern vielmehr mit einem anderen „Ich“. Mal mit einem realen früheren Ich, mal mit einer Art Idealvorstellung. Beides toxisch in Bezug auf die Herausforderung, mich im Hier und Jetzt anzunehmen. Was ich dagegen machen kann, außer prähistorischen Zuständen nachzueifern, die ich aus diversen Gründen nicht mehr erreichen werde, weiß ich nicht. In Bewegung kommen, hilft kurzfristig, ist aber leider eine nicht viel weniger große Herausforderung.

In diesem Sinne bleibe ich nach der schlaflosen Nacht wieder bis zum Nachmittag liegen. Ich bin genervt. Tag für Tag geht alles irgendwie weiter, aber es gibt keinen Spaß, keine echte Freude, keine Zufriedenheit. Um 15 Uhr steht dann noch die am Freitag verschobene Nachhilfe auf dem Programm. Lust habe ich nicht, weiß aber, dass es mir danach etwas besser gehen wird. Außerdem ist das heute die vorerst letzte Stunde – am Mittwoch steht noch die mündliche Abiturprüfung an, dann ist das Kapitel für meine Nachhilfeschülerin abgeschlossen.

Die Nachhilfe belebt tatsächlich ein wenig. Auf dem Heimweg bin ich sogar in der Stimmung, ein Telefonat zu führen. Das ist selten. Der Abend birgt keine weiteren Überraschungen.

 

24. Mai 2021

 

Die Schlaflosigkeit manifestiert sich. Hurra, noch ein Problem. Ich toppe den Wert von gestern, liege bis 4 Uhr wach und teile mein Leid mit einem Freund, dem es ähnlich geht. Geteiltes Leid ist halbes Leid? Was für ein blödsinniger Spruch. Geteiltes Leid ist mindestens doppeltes Leid. Gepaart mit einem Quäntchen Hilflosigkeit, weil man sich das Leid gegenseitig nicht nehmen kann. Der mich dann irgendwann doch einholende Schlaf ist mehr als unruhig, wieder werde ich alle zwei Stunden wach und bin tagsüber entsprechend übermüdet.

Um 15 Uhr 30 quäle ich mich aus dem Bett, drehe eine Runde auf dem Rennrad und bin dankbar über das heute stabile Wetter. Beim Radfahren sortiere ich wie so oft die Gedanken. Immer wieder denke ich in den letzten Tagen und Wochen darüber nach, einfach ins Krankenhaus zu fahren und um eine Aufnahme zu bitten. Das nächste Krankenhaus mit 24h besetzter Notaufnahme für „Krisensituationen“ ist nicht weit entfernt. Und manchmal wünsche ich mir, „man“ (wer auch immer das ein soll), würde mich einfach dort hinschicken.

Die Sehnsucht nach Krankenhaus ist keine Sehnsucht nach einer psychiatrischen oder psychosomatischen Behandlung. Es ist vielmehr die Sehnsucht, einfach im Bett liegen zu können. Natürlich kann ich das auch zuhause, aber zuhause ist es immer mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit verbunden, weil ich weiß, dass „normale“ Menschen nicht den ganzen Tag im Bett liegen. Im Krankenhaus gibt es hingegen Hunderte, die nicht anderes tun. Ich wäre in bester Gesellschaft.

Ja, das klingt zynisch und ich möchte wahrlich niemanden mit einer ernst zu nehmenden Krankheit zu nahetreten oder Krankheiten generell bagatellisieren. Aber ich verspüre oft Neid gegenüber „richtig“ kranken Menschen. Richtig, im Sinne von körperlich. Diesen blöden Knacks an der Psyche, den sieht man eben nicht. Der ist nicht greifbar. Der führt dazu, dass ich – sobald ich offenlege, dass ich den ganzen Tag im Bett liege – nicht selten gefragt werde: Warst du heute ein bisschen draußen? Konntest du dich noch aufraffen? Mach doch wenigstens einen kleinen Spaziergang oder eine Radtour. Komm doch mal wieder vorbei. Auch hier möchte ich niemandem zu nahetreten, niemanden kritisieren. Ich weiß, dass all diese Fragen und Aufmunterungsversuche gut gemeint sind. Und sicherlich auch schon das ein oder andere Mal in ähnlicher Form angesichts ähnlicher Situationen, die andere betrafen, auch mir über die Lippen gekommen sind. Aber wenn ich mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus ans Bett gefesselt wäre, käme man nicht auf den Gedanken, mir einen Spaziergang vorzuschlagen. Und oft fühle ich mich genauso. Bleischwer, ans Bett gefesselt. Regungslos, wie paralysiert. Wenn dann z. B. die Wiedergabe von einem Video am Handy stoppt, starre ich minutenlang auf den schwarzen Bildschirm, weil ich den Arm nicht heben kann.

Ich tagträume davon, einen Unfall zu haben. Beim Radfahren: ein Stein auf der Straße oder ein Stöckchen zwischen den Speichen, ein heftiger Aufprall und schwarz vor Augen. Oder ein falscher Tritt auf der Treppe. Oder eine richtig schlimme Grippe. Ja, dieser Gedanke ist schrecklich in einer Zeit, in der das Corona-Virus die Welt noch immer in Schach hält und täglich tausende Menschen daran versterben. Ich schäme mich sehr dafür, aber ich habe ja nun die Woche der Ehrlichkeit ausgelobt und deswegen schreibe ich auch diesen Gedanken auf. Ein paar Wochen im Krankenhaus liegen. Einfach mal auf PAUSE drücken. Nichts machen können und vor allem nichts machen müssen. Keine Erwartungen, die es zu erfüllen gilt.

Morgen ist der Termin bei der Psychiaterin. Ich kenne die Situation dieser Anamnese-Gespräche, ich habe schon mehr als ein Dutzend von ihnen geführt. Hinterher bleibt immer das Gefühl, höchstens die Hälfte von dem gesagt zu haben, was wichtig gewesen wäre. Eine Liste könnte hilfreich sein. Wie gut, dass ich eine Woche Tagebuch geführt habe. Ich notiere: Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit, Suizidgedanken, Depressionen, Hoffnungslosigkeit, stoffgebundene Sucht, stoffungebundene Sucht. Eine lange Liste. Aber auch ganz viel Teufelskreis. Und vielleicht – und das ist zumindest so ein ganz ganz schwacher Hoffnungsschimmer am Horizont – hilft es auch schon, ein Problem zu lösen oder ein Symptom loszuwerden und auf positive Synergieeffekte, aka ein Durchbrechen des Teufelskreises zu hoffen. Und so will ich dem Termin zumindest eine Chance geben. Eine von vielen.

Freitag, 19. März 2021

Ein Jahr Corona-Pandemie

Die Woche war anstrengend. Montag Nachhilfe, Dienstag drei Stunden interne Besprechungen, Mittwoch und Donnerstagvormittag Aufgabenentwicklungstagung, Donnerstagnachmittag ein Workshop – natürlich alles im Onlinemodus. Am Mittwoch ein trauriges Jubiläum: vor einem Jahr wurde der erste Lockdown eingeleitet. Am 16.03.2020 war ich damals das letzte Mal im Büro, danach begann die Stunde der Videokonferenzen. Die Lesegruppe am Mittwochabend wurde im Frühjahr 2020 ins Leben gerufen und hat bislang ausschließlich online stattgefunden. Die KollegInnen in dieser Gruppe habe ich seit über einem Jahr nicht mehr persönlich gesehen.

Freitag. Ich wache früh auf, 8 Uhr 20 ist es erst, die Sonne durchflutet die Wohnung mit Licht. Ich verteufle sie – um diese Uhrzeit und bei diesen Temperaturen kann ich mit ihr nicht viel anfangen. Ich wanke zur Toilette, blicke über das Chaos der letzten drei Tage, den unaufgeräumten Schreibtisch, die Wäsche, die ich seit Dienstag schon hätte abhängen können, das dreckige Geschirr in der Spüle, die Staubflusen im Bad. Ich mustere mein vom Schlaf gezeichnetes Gesicht im Spiegel und vermeide den Blick auf die seit Montag nicht mehr gewaschenen Haare.

„Ab heute wird alles anders“ – wie oft habe ich das die letzten Wochen und Monaten gedacht, gesagt, aufgeschrieben unter die Überschrift „Tag 1“ auf eine neue, noch jungfräulich weiße Seite im Tagebuch? Oft … viel zu oft. Spoiler: Es wurde nie anders. Zumindest nicht grundlegend und/oder langanhaltend. Die alten Muster, Gedanken und Gefühle, Überzeugungen und Glaubenssätze – sie holten mich immer wieder ein. „Ab heute wird alles anders“ – denke ich mir heute trotzdem wieder. Aber so richtig glauben tue ich schon lange nicht mehr daran. So bleibt es letztlich nur ein weiteres, zum Scheitern verurteiltes Vorhaben.

Ich tapse zurück ins Bett, ziehe die Jalousie herunter und die Decke über den Kopf, falle kurz darauf wieder in einen unruhigen Sekundenschlaf und träume von Liebe, Lebensfreude und Leichtigkeit und auch von Ruhm und Erfolg, und vor allem davon, ein wenig weniger alleine damit zu sein.

Depression ist nicht Traurigkeit, sondern die Abwesenheit von Hoffnung. Ich bleibe im Bett bis zum späten Nachmittag, distanziere mich gedanklich von den wilden Träumen, finde mich auf dem Boden der Tatsachen wieder und fröne meiner Hoffnungslosigkeit. Nachdem ich mich vom zweiten Teil des Workshops abgemeldet habe, da mir die gestern angekündigten Inhalte bereits vertraut sind, sehe ich heute nach der vollen Arbeitswoche keinen dringenden Grund, den Computer vor dem Abend anzuschalten. Erst um 17 Uhr stehe ich auf, begleitet von Kopfschmerz, Muskelschmerz, Herzschmerz, Weltschmerz. Ein Blick aufs Thermometer: 1 Grad Außentemperatur. Am 19. März. Ich sehne mich nach dem Frühling, die Räder stehen seit Ende November im Keller und das Lauftraining, um mich über den Winter fit zu halten, braucht erfahrungsgemäß ein Vielfaches mehr an Motivation als die ersten kleineren und größeren Radtouren im Frühjahr. Doch dieses Jahr beginnt die Saison leider spät, gestern Abend gab es noch einmal spontanen Schneefall, heute früh waren Dächer und Gärten bedeckt, die Räder werde ich wohl frühestens Ende nächster Woche aus dem Winterschlaf holen.

Angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit gehe ich aber auch nicht mehr Laufen heute. Auf einen bewegungsarmen Tag mehr oder weniger kommt es nicht an. Lethargisch fange ich an, zu putzen und aufzuräumen, bringe den Müll raus in die Kälte und wasche die Haare, um zumindest wieder in den Spiegel sehen zu können. Dann sitze ich noch 2-3 Stunden am Computer, schaue die Tagesschau und das anschließende „Corona-Extra“, frage mich, wie viele es davon wohl gab innerhalb des letzten Jahres und wie viele wohl noch folgen werden innerhalb des nächsten, und entscheide schließlich gegen halb 11, wieder ins Bett zu gehen. „Ab morgen wird alles anders“, denke ich. Aber glauben tue ich nicht daran.