Freitag, 19. März 2021

Ein Jahr Corona-Pandemie

Die Woche war anstrengend. Montag Nachhilfe, Dienstag drei Stunden interne Besprechungen, Mittwoch und Donnerstagvormittag Aufgabenentwicklungstagung, Donnerstagnachmittag ein Workshop – natürlich alles im Onlinemodus. Am Mittwoch ein trauriges Jubiläum: vor einem Jahr wurde der erste Lockdown eingeleitet. Am 16.03.2020 war ich damals das letzte Mal im Büro, danach begann die Stunde der Videokonferenzen. Die Lesegruppe am Mittwochabend wurde im Frühjahr 2020 ins Leben gerufen und hat bislang ausschließlich online stattgefunden. Die KollegInnen in dieser Gruppe habe ich seit über einem Jahr nicht mehr persönlich gesehen.

Freitag. Ich wache früh auf, 8 Uhr 20 ist es erst, die Sonne durchflutet die Wohnung mit Licht. Ich verteufle sie – um diese Uhrzeit und bei diesen Temperaturen kann ich mit ihr nicht viel anfangen. Ich wanke zur Toilette, blicke über das Chaos der letzten drei Tage, den unaufgeräumten Schreibtisch, die Wäsche, die ich seit Dienstag schon hätte abhängen können, das dreckige Geschirr in der Spüle, die Staubflusen im Bad. Ich mustere mein vom Schlaf gezeichnetes Gesicht im Spiegel und vermeide den Blick auf die seit Montag nicht mehr gewaschenen Haare.

„Ab heute wird alles anders“ – wie oft habe ich das die letzten Wochen und Monaten gedacht, gesagt, aufgeschrieben unter die Überschrift „Tag 1“ auf eine neue, noch jungfräulich weiße Seite im Tagebuch? Oft … viel zu oft. Spoiler: Es wurde nie anders. Zumindest nicht grundlegend und/oder langanhaltend. Die alten Muster, Gedanken und Gefühle, Überzeugungen und Glaubenssätze – sie holten mich immer wieder ein. „Ab heute wird alles anders“ – denke ich mir heute trotzdem wieder. Aber so richtig glauben tue ich schon lange nicht mehr daran. So bleibt es letztlich nur ein weiteres, zum Scheitern verurteiltes Vorhaben.

Ich tapse zurück ins Bett, ziehe die Jalousie herunter und die Decke über den Kopf, falle kurz darauf wieder in einen unruhigen Sekundenschlaf und träume von Liebe, Lebensfreude und Leichtigkeit und auch von Ruhm und Erfolg, und vor allem davon, ein wenig weniger alleine damit zu sein.

Depression ist nicht Traurigkeit, sondern die Abwesenheit von Hoffnung. Ich bleibe im Bett bis zum späten Nachmittag, distanziere mich gedanklich von den wilden Träumen, finde mich auf dem Boden der Tatsachen wieder und fröne meiner Hoffnungslosigkeit. Nachdem ich mich vom zweiten Teil des Workshops abgemeldet habe, da mir die gestern angekündigten Inhalte bereits vertraut sind, sehe ich heute nach der vollen Arbeitswoche keinen dringenden Grund, den Computer vor dem Abend anzuschalten. Erst um 17 Uhr stehe ich auf, begleitet von Kopfschmerz, Muskelschmerz, Herzschmerz, Weltschmerz. Ein Blick aufs Thermometer: 1 Grad Außentemperatur. Am 19. März. Ich sehne mich nach dem Frühling, die Räder stehen seit Ende November im Keller und das Lauftraining, um mich über den Winter fit zu halten, braucht erfahrungsgemäß ein Vielfaches mehr an Motivation als die ersten kleineren und größeren Radtouren im Frühjahr. Doch dieses Jahr beginnt die Saison leider spät, gestern Abend gab es noch einmal spontanen Schneefall, heute früh waren Dächer und Gärten bedeckt, die Räder werde ich wohl frühestens Ende nächster Woche aus dem Winterschlaf holen.

Angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit gehe ich aber auch nicht mehr Laufen heute. Auf einen bewegungsarmen Tag mehr oder weniger kommt es nicht an. Lethargisch fange ich an, zu putzen und aufzuräumen, bringe den Müll raus in die Kälte und wasche die Haare, um zumindest wieder in den Spiegel sehen zu können. Dann sitze ich noch 2-3 Stunden am Computer, schaue die Tagesschau und das anschließende „Corona-Extra“, frage mich, wie viele es davon wohl gab innerhalb des letzten Jahres und wie viele wohl noch folgen werden innerhalb des nächsten, und entscheide schließlich gegen halb 11, wieder ins Bett zu gehen. „Ab morgen wird alles anders“, denke ich. Aber glauben tue ich nicht daran.