Mittwoch, 22. April 2020

Isolation, Tag 31 bis 36: Status-Update N°2

Die letzten Tage der letzten Woche habe ich gehadert. Mit mir, meinem Lebensentwurf, meinen gerade sehr unklar definierten Zukunftszielen, meinem Aussehen und vor allem meiner Frisur, meinen Worten, meinen Gedanken, meinen Taten. Mit meiner Frisur hadere ich immer noch, ansonsten bin ich seit dem Wochenende aber wieder mehr im Einklang mit mir selbst und dem, was ich tue.

Am Samstag ist – überraschend schnell – ein großes Paket angekommen: um mir die Arbeit im Homeoffice zu erleichtern, habe ich in einen Monitor investiert. Was für eine gute Entscheidung! Motivation und Produktivität haben sich mit Inbetriebnahme des Monitors exponentiell gesteigert und nun ein Niveau erreicht, von dem ich die letzten Wochen nur träumen konnte. Dies hat mich sogar dazu bewogen, den seit Wochen aufgeschobenen Remotezugriff auf meinen Bürorechner zu wagen, um mich seit Wochen aufgeschobenen Arbeiten zu widmen. Ich war ziemlich überrascht, wie einfach das funktionierte und wie stabil die Verbindung war. Und es war ein ziemlich seltsames Gefühl, plötzlich den Bürorechner „zuhause stehen zu haben“. Die Arbeit ging mir leicht von der Hand und fühlte sich fast an „wie immer“. Mein Büro vermisse ich trotzdem sehr. Und Sportfernsehen.

Die Arbeit selbst kommt mir wieder bedeutsamer vor als zu Beginn der Epidemie. Zwar sind es noch immer die Mediziner bzw. Virologen und Epidemiologen, Biomathematiker und Bioinformatiker, deren Erkenntnisse und Einschätzungen medial am stärksten in die Öffentlichkeit transportiert werden, aber die Debatte um die Auswirkungen der Schul- und Kitaschließungen hat nach relativem Stillschweigen während der Anfangsphase mittlerweile deutlich an Fahrt aufgenommen. Dabei geht es nicht mehr vorrangig um die Auswirkung der Schulschließung auf die Verbreitung des Virus, sondern auch um die Auswirkung auf die Kompetenzentwicklungen der Kinder, die mögliche (wahrscheinliche) Verstärkung sozialer Disparitäten, die zunehmende Belastung von Eltern, die von jetzt auf gleich die Aufgaben ausgebildeter Pädagogen erfüllen sollen, die Frage, warum gerade die Abschlussklassen zuerst zurück in die Schule gerufen und an den Prüfungstisch gesetzt werden, usw... Und während ich die bildungswissenschaftlich, bildungspolitisch und öffentlich geführte Diskussion diesbezüglich interessiert und gespannt verfolge, widme ich mich der Zusammenstellung von Übungstestheften, die es den Lehrkräften erleichtern sollen, den Leistungsstand ihrer Klassen nach Wiederaufnahme des Schulbetriebs einzuschätzen. Mir scheint, als leiste ich auf diesem Wege gerade einen klitzekleinen Beitrag zur Bewältigung der Krise bzw. zur Schadensbegrenzung. Ein nettes Gefühl.

Über diese positive Wendung in Bezug auf das Arbeiten im Homeoffice hinaus, kann ich meinem derzeitigen Kleinstadtleben in Berlin-Zehlendorf nach wie vor viel Positives abgewinnen. Während der Runden um die nahegelegenen Seen beobachte ich Hunde, auf der Suche nach ihren Herrchen (oder umgekehrt?), Eltern, auf der Suche nach ihren Kindern (oder umgekehrt?), Männer mit Metalldetektoren und Richtmikrofonen auf der Suche nach Schätzen und Vogelstimmen (hoffe ich zumindest), Frauen, die auf der Suche nach Aussicht auf Bäume klettern und Kinder, auf der Suche nach Abenteuern. Ein Junge mit Angel zieht vor meinen Augen einen Fisch aus dem Zufluss in den See, bejubelt den Fang mit seinen Freunden, belächelt meine Frage: „Den kann man aber nicht essen, oder?“, befreit den Fisch fachmännisch vom Haken und wirft ihn wieder ins Wasser. Ich bin beeindruckt.

Corona ist bei meiner Beobachtung von Mensch und Natur mittlerweile nicht mehr besonders präsent. Nur selten frage ich mich noch, ob ich selbiges wohl auch „vor Corona“ hätte beobachten können. Angelnde Kinder und Frauen, die auf Bäume klettern, habe ich am See z. B. noch nie gesehen. Vielleicht taten sie es dennoch schon vorher und ich war einfach noch nie zur entsprechenden Zeit am entsprechenden Ort.

Zuletzt beobachte ich neue oder längst vergessen geglaubte Wesenszüge an mir selbst. Ich liege auf dem Dach in der Sonne, höre Musik und lasse das Leben auf mich regnen. Beim Blick in den Spiegel schaue ich den Sommersprossen beim Wachsen zu. Und beim Blick ins Innere dem Wachsen meiner Frustrationstoleranz. Das zeigt sich vor allem bei der Arbeit (oder Nicht-Arbeit) an der Dissertation, aber auch beim täglichen Zeichnen, bei missglückten „Es muss doch irgendwie ohne Hefe gehen“-Backversuchen, beim Verfehlen von selbstgesetzten Laufzeit-Zielen und einigem mehr.

Die Panik ist verschwunden, aber es sagt auch keiner mehr, dass man die Krise als Chance sehen kann, dachte ich angesichts der Ankündigung der vorläufigen Lock-Down Verlängerung vor einer Woche. Heute sehe ich es wieder anders. Die Krise hat verheerende Auswirkungen, aber Bemühungen, „das Beste“ draus zu machen, können durchaus gewinnbringend sein. „Das wird gut“ sagt einer meiner Koautoren immer. Unzählige Male habe ich ihn schon für diesen Spruch verteufelt, weil ich seine Einschätzung nicht teilte und selbst so gar nicht das Gefühl hatte, dass „das“ auch nur annähernd auf dem Weg ist, „gut“ zu werden. In diesen Tagen ertappe ich mich dabei, „Das wird gut“ zu denken, zu sagen und irgendwie auch davon überzeugt zu sein.

Donnerstag, 16. April 2020

Isolation, Tag 28 bis 30: Status-Update

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und nach Ostern mache ich eine Pause. Das Tagebuch-Schreiben kostet Zeit und braucht Muße. Zeit habe ich zwar augenscheinlich genug, aber es fällt mir manchmal schwer, in die Gänge zu kommen und die Zeit zu nutzen. Und wenn dann Elan da ist, stehen andere Dinge auf der Prioritätenliste weiter oben. Die Muße zum Schreiben ist mir etwas abhandengekommen, aber auch das ist nichts Überraschendes nach nun 30 Tagen in der Isolation, die im Wesentlichen durch Warten geprägt ist.

Ich hatte auf Ostern gewartet und natürlich auf die Ankündigung zu weiteren Lockdown-Regelungen bzw. einer möglichen „Exit-Strategie“, die nach Ostern folgen sollten. Jetzt sind sie da und ich habe eine gewisse Gewissheit, dass sich meine persönliche Situation bis zum 04. Mai nicht wesentlich verändern wird. Also heißt es weiter warten … abwarten.

Wie sich die Situation „da draußen“ in den nächsten zweieinhalb Wochen verändern wird, wissen wir nicht. Das sagen in diesen Tagen alle, allen voran Frau Merkel, Herr Drosten und wie sie sonst noch heißen: „Wir wissen es einfach nicht.“ und „Wir warten (jetzt) ab, was da kommt.“

In diesem Sinne verweise ich heute auf das Fazit eines anderen Corona-Bloggers zur momentanen Situation: „Es gibt Status-Updates, aber keine Geschichten.“ Mein Urlaub ist vorbei, ich muss wieder arbeiten, und angesichts eines anstehenden Vortrags im Forschungskolloquium via Videokonferenz ist es gerade auch wirklich ein echtes „ich muss“ und kein „ich müsste“. Ansonsten versuche ich das zu machen, was ich die ganze Zeit mache, nämlich zuversichtlich zu bleiben und meinem Tag irgendwie Struktur zu geben. Das klappt mal besser, mal schlechter.

Wenn ich neue Geschichten habe, dann schreibe ich sie hier auf. Wenn mir nach einem Status-Update ist, dann gibt es ein Status-Update. Und wenn ich nichts schreibe, dann schreibe ich hoffentlich an meiner Dissertation. Oder ich kommentiere beim Prokrastinieren Youtube-Videos, chatte bei Whatsapp mit lieben Freunden und interessanten Unbekannten, oder versuche meine besorgten Eltern zu beruhigen, die sich beschweren „nichts von mir zu hören“, obwohl wir tags zuvor und tags zuvor von tags zuvor noch intensiv über die Ferndiagnostik der technischen Probleme an Omas Pulsuhr diskutiert haben. Ich bin wohl nicht die einzige, die das Zeitgefühl etwas verloren hat in den letzten Wochen!

Montag, 13. April 2020

Isolation, Tag 27: Melancholische Wanderung

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und heute antworte ich: „Eine Osterwanderung“. Und weil mich sonst keiner danach fragt, frage ich mich selber: „Und wie fühlst du dich dabei?“ Und antworte mir: „Einsam und traurig.“

Am Ostermontag holen mich Einsamkeit und Traurigkeit also doch noch ein. Tags zuvor hatte ich mir vorgenommen, eine kleine Wanderung zu machen und setze diesen Plan auch in die Tat um. Spaziergänge und Wanderungen machen „wir“ oft an Ostern. Die Wege, die ich heute gehe, habe ich mittlerweile schon einigen Berliner Freunden, Bekannten und Familienmitgliedern in verschiedenster Konstellation und in verschiedensten Varianten gezeigt. Heute gehe ich sie alleine und ohne Begleitung ist es einfach etwas ganz anderes.

Heute fehlen mir die tiefgründigen Gespräche, die ich auf diesen Wegen mit einer lieben Freundin geführt habe. Das Schimpfen über die Arbeit, als ich sie mit den Kolleginnen entlang gelaufen bin. Der Austausch mit meiner Mama über ihre Liebe und meine Hassliebe zu Berlin, als ich sie bei einem ihrer letzten Besuche aus der Stadt herausgelockt habe. Das Warten auf meinen Papa, der hier und da wie so oft unzählige Fotos von ein und demselben Motiv gemacht hat. Und sogar die doofen Sprüche und flachen Witze von meinem Onkel und einem gutem Freund meiner Eltern, über die ich oft eher hinweghöre (obwohl ich beide natürlich sehr gerne habe!). Heute muss ich mich selbst unterhalten und das ist in meiner melancholischen Stimmung gar nicht so einfach.

Die Wanderung startet an der Heerstraße, das erste Ziel ist der Drachenberg. Obwohl es heute bewölkt, windig und mehr als 10 Grad kühler ist als gestern, sind hier noch viele andere Menschen unterwegs. Ich lasse den Blick über das Plateau schweifen und nehme danach die bunten Drachen im Einzelnen in den Blick. Ein schwarzer Rabe hat es mir dabei besonders angetan. Auf den Drachenberg folgt der Anstieg zum Teufelsberg und ich frage mich, wann wohl wieder Führungen über das Gelände angeboten werden und ich die Gutscheine dafür einsetzen kann, die ich von meinem Onkel zu Weihnachten bekommen habe.

Nach dem Teufelsberg, so die Erfahrung, werden auf den heute gewählten Wegen nur noch wenige Menschen unterwegs sein. Ich hatte mir zwar meine Kopfhörer mitgenommen und ein paar Podcasts aufs Handy geladen, doch zunächst verzichte ich darauf, sie zu hören und versuche, die Ruhe im Wald zu genießen. Ruhig ist es dann auch, sehr ruhig sogar. Mehr als meine Schritte, das Rascheln der Blätter im Wind und ganz selten ein Vogelzwitschern höre ich nicht. Melancholisch hänge ich also meinen traurigen Gedanken nach und summe ein paar Mut machende Kirchenlieder vor mich hin. „Du bist heilig, du bringst heil“ hat es mir heute angetan, obwohl das doch gar kein Osterlied ist. Aber ein gutes Coronalied ist es, denke ich mir. (Den Text kopiere ich in die Fußnote.*)

Ich überlege, woher die Traurigkeit heute kommt, und denke mir, dass es gar keine ausschließlich Corona-bedingte Traurigkeit ist. Zumindest teilweise ist es wohl auch meine übliche Stimmung, wenn bevorstehende Ereignisse eingetreten und zu Ende gegangen, während darauffolgende noch nicht in Aussicht sind. So wie mit Ostern gerade ging es mir früher an fast jedem Ende der Schulferien, nach Familienfesten oder nach Feiertagen. Die letzten zwei bis drei Wochen dachte ich immer nur „bis Ostern“. Jetzt ist Ostern vorbei und ich habe keine Vorstellung davon, wie „es“ weitergehen wird. Was taugt als nächster Haltepunkt? Der Start ins virtuelle Semester am 20. April? Mein Geburtstag in zwei Wochen? Der erste Mai? Der Tag, an dem ich wieder ins Büro darf? Ein Datum dafür steht leider noch in den Sternen.

Morgen ist mein Urlaub zu Ende und wieder ins Büro zu dürfen ist etwas, was ich mir beim Gedanke daran wirklich wünschen würde. Das mit dem Homeoffice mag in Bezug auf die Dissertation mittlerweile zwar etwas besser laufen, aber an die Projektarbeit habe ich mich zuhause allenfalls oberflächlich gewagt. Das sollte sich nächste Woche unbedingt ändern, auf meiner To-Do Liste haben sich einige Punkte angesammelt.

Ich mache eine Pause und klemme mir beim Versuch, mit kalten Händen meine Thermosflasche aufzuschrauben, ziemlich heftig den linken Mittelfinger ein. Das ist vor allem angesichts der bis zum Abend anhaltenden Schmerzen ärgerlich, aber im ersten Moment bin ich fast dankbar über den Schmerz, der mich ins Hier und Jetzt zurückholt und mich eine ganze Weile ganz schön ablenkt. Nicht zuletzt von den Gedanken an die Arbeit. Irgendwann kehrt eine gewisse gedankliche Ruhe ein und ich laufe ein längeres Stück weiter, ohne zu denken. Ist das schon Meditation? Es fühlt sich jedenfalls danach an.

Etwas später kommen die Gedanken dann doch wieder zurück und weil sie nach wie vor melancholisch sind, entscheide ich mich gegen die Ruhe des Waldes und setze doch noch die Kopfhörer auf, um Podcasts zu hören. „Wenn du den Schreibtisch anschaust, weißt du immer auch, wie groß das Projekt von jemandem gerade ist.“ bleibt als eigentlich netter Gedanke am Ende einer Folge „Hotel Matze“ hängen, lässt mich allerdings auch gleich wieder an Zuhause, die Isolation, die Arbeit und die Homeoffice Problematik denken. Ich akzeptiere, dass die Stimmung heute einfach ist, wie sie ist und beende den Tag mit dem dringenden Wunsch, im Laufe der Woche etwas mehr Klarheit darüber zu erlangen, in welcher Form und vor allem wie lange diese Isolation noch anhalten muss.

* Du bist heilig, du bringst Heil,
bist die Seele, wir ein Teil
der Geschichte, die du webst,
Gott, wir danken dir, du lebst
mitten unter uns im Geist,
der Lebendigkeit verheißt,
kommst zu uns in Brot und Wein,
schenkst uns deine Liebe ein.

Isolation, Tag 26: Ostern

Vor zehn Tagen schrieb ein sehr guter Freund mir, Ostern sei jetzt wohl „offiziell abgesagt“. Anlass war glaube ich die Ansage, dass die Maßnahmen zur Kontaktsperre mindestens bis nach Ostern beibehalten werden, was für uns beide Gewissheit bedeutete, dass wir Ostern nicht mit unseren Familien werden. Mir war der Gedanke an eine „Absage“ erstmal suspekt. Ostern bleibt Ostern, auch ohne Verwandtschaftsbesuch, oder? Vier Tage später schrieb ich ihm dann aber doch: „Ich bin jetzt auch traurig wegen Ostern.“ Ostern war für mich schon immer ein wichtiges und meistens auch ein sehr schönes Fest und ich wäre heute gerne mit meiner Familie bei meiner Oma gewesen. Aber besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen und angesichts der aktuellen Maßnahmen fühlte es sich vernünftiger an, in Berlin zu bleiben.

Ich beginne den Tag mit einem Fernsehgottesdienst zum Ostersonntag. Der Gottesdienst ist schön gestaltet und musikalisch untermalt. Ich summe die Lieder mit und bin gerührt über die Worte der Pfarrerin. „Ostern ist nicht abgesagt“, denke ich. Wir feiern es dieses Jahr einfach anders. Im Anschluss male ich einen „Frohe Ostern“-Gruß und verteile ihn über Whatsapp und Telegram. Ich erhalte viele „Frohe Ostern“-Grüße zurück und finde, dass diese schon mal ein guter Ersatz für das übliche Händeschütteln im Gottesdienst ist.

Ich hatte mich bereits auf ein einsames Osterfest ohne Osternest eingestellt und mich mit dem Rennrad zu einer ausgedehnten Osterradrunde verabredet, doch einer meiner Onkel durchkreuzt meine Pläne und lädt mich spontan ein, auf der Runde vorbeizufahren, um mir einen Schokohasen abzuholen.* So fahre ich heute also wieder durch Brandenburg und wähle dabei Straßen, von denen die Mehrheit nett anzuschauen und nur die Minderheit schlecht asphaltiert oder dicht befahren ist. Ich freue mich über die gute Navigation durch meine GPS-Uhr und finde die Route heute wirklich ganz schön. Ich komme vorbei an einer verlassenen Wasserskianlage, einem verlassenen Golfplatz, etlichen Windkraftanlagen und jeder Menge Pferdehöfen. Mir war gar nicht bewusst, dass Reiten noch so modern ist. Und ich begegne auch wieder vielen anderen Rennradfahrern. Die mir entgegenkommen grüße ich, die meisten grüßen zurück – eine Geste, die nicht erst seit der Corona-Krise wohl verbreitet ist.

Wenn ich in einem Tempo überholt werde, das ich gut auch eine Weile mithalten kann, klemme ich mich hintenan und versuche, eine Weile mitzuhalten. Auch wenn mir klar ist, dass das Ansteckungsrisiko dabei wohl verschwindend gering sein sollte, verzichte ich heute lieber auf den Windschatten und halte eine Radlänge Abstand. So fährt man dann eine Weile einträchtig hintereinander, still, und nur begleitet durch das Surren der Pedale, bis sich die Wege trennen oder Kraft und Kondition nicht mehr miteinander zu vereinen sind. Die Gewissheit über eine gemeinsame Leidenschaft verbindet, auch wenn man ansonsten rein gar nichts von den jeweils anderen weiß. Das ist irgendwie ein seltsamer, aber doch auch ein schöner Gedanke.

In den Dörfern entdecke ich auch heute wieder viele kleine Stände vor den Häusern, mit selbstgemachten Osterbroten, Keksen, Marmeladen und Apfelmus. Heute hätte ich mir gerne ein Glas mitgenommen, leider habe ich kein passendes Kleingeld dabei. Vielleicht beim nächsten Mal.

Am Nachmittag erreiche ich das Haus meines Onkels. Der Schokohase wartet in der Papiermülltonne, das Suchen bleibt mir aber erspart, das Versteck wurde mir vorher verraten. Eine mitgebrachte Schokolade mit Ostergruß reiche ich im Gegenzug über den Gartenzaun. Über den Gartenzaun unterhalten wir uns dann auch noch ein bisschen und auch das ist wieder eine willkommene Abwechslung zum mittlerweile doch einsam werdenden Alltag (wenn man aktuell denn überhaupt von „Alltag“ sprechen kann).

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ lese ich als Schriftzug an einem Schulgebäude, an dem ich vorbeifahre, es handelt sich dabei um ein Zitat vom Religionsphilosophen Martin Buber. Wie wahr, denke ich mir, der Mensch ist ein Herdentier, heißt es in diesen Tagen ja immer wieder. Aber Begegnung kann vielseitig gedacht werden, denke ich weiter. Begegnungen auf dem Fahrrad, Begegnungen am Gartenzaun oder der Haustüre, Begegnungen mit Sicherheitsabstand, Begegnungen über Telefon und Internet. „Allein sein heißt nicht einsam sein.“ erklären uns die Soziologen, Psychologen, Politiker und altklugen Alltagsphilosophen und man muss ihnen allen wohl Recht geben.

Den Rest des Tages verbringe ich im Wesentlichen auf dem Sofa, lege die müden Beine hoch und arbeite an einem neuen Häkelauftrag. Mit Familie und Freunden tausche ich mich am Abend noch über die jeweiligen Oster-Aktivitäten aus, unter anderen auch mit dem zu Beginn des Artikels erwähnten Freund. „Zum Ende des Tages bin ich etwas traurig und fühle mich einsam, aber der Tag war eigentlich schön.“ schreibe ich ihm und berichte von meiner Tagesgestaltung. „Klingt ganz gut. Auch wenn ich nicht weiß, wie man so einen Ostertag bewerten soll. Aber für einen Coronatag klingt es gut.“ antwortet er und ich kann mir in diesem Moment kein treffenderes Fazit vorstellen. Ostern ist nicht ausgefallen, es war nur anders als sonst. Und den Umständen entsprechend hatte ich alles in allem durch viele freundliche Gesten und Worte einen schönen „Coronostersonntag“.

* Ich muss zugeben, dass ich an der spontanen Einladung nicht ganz unbeteiligt war. Ich habe die Schokohasen am Morgen in seinem Profilbild entdeckt und ihn gefragt, ob ich mir einen abholen darf :-D

Sonntag, 12. April 2020

Isolation, Tag 25: Abwechslung

Karsamstag: ein guter Tag. Die Karwoche geht zu Ende und mit ihr eine weitere in der Isolation. Die Zuversicht von gestern bestätigt sich. Am Vormittag entdecke ich auf Facebook zufällig, dass der Stand von der Ölmühle heute Teil des Marktes ist und düse spontan los, um es für die Freundin, die ich letztes Wochenende leider enttäuschen musste, zu besorgen. Ich habe Glück und erstehe die letzten beiden Fläschchen, die ich im Anschluss gleich ausliefere. Es tut gut, einem lieben Menschen einen Gefallen zu tun und eine große Freude zu machen. Und die Auslieferung bietet die Möglichkeit für ein kurzes Gespräch zwischen Tür und Angel – natürlich mit Sicherheitsabstand. Eine willkommene Abwechslung!

Weil viele den Samstag zwischen den Feiertagen zum Einkaufen nutzen, ist es in der Stadt voll und vor nahezu jedem Laden gibt es lange Schlangen. Ich bin froh, dass ich gut geplant und am Dienstag alles Nötige eingekauft habe. Meine Vorräte werden sicher bis zum nächsten Dienstag oder sogar Mittwoch ausreichen und ich kann der Stadt den Rücken kehren, um eine weitere Runde Rennrad zu fahren. Den dritten Tag in Folge geht es entlang der Havelchaussee – heute fahre ich aber mal andersrum.

Der Wechsel der Fahrtrichtung lässt mich die schon unzählige Male gefahrene Strecke aus einer ganz neuen Perspektive entdecken. Ich erkenne sie an einigen Stellen wirklich kaum wieder und merke mir die Strategie für andere Strecken: Es kann so einfach sein, neue Ecken zu entdecken! Ich muss aber zugeben, dass ich durchaus schon mehrmals mit dem Gedanken gespielt habe, die Runde andersherum zu fahren. Was mich bislang davon abhielt, war die Vermutung, dass mir die Steigungen in umgekehrter Richtung weniger zusagen werden. Die Vermutung bestätigt sich, aber Spaß macht es trotzdem und die Gewissheit über eine Vermutung zu erlangen, ist für Wissenschaftler ja allein schon ein befriedigendes Gefühl.

Mit der Wissenschaft geht es heute zur Abwechslung dann auch endlich mal wieder zufriedenstellend voran. Ich schreibe nicht viel Neues, aber schaffe Ordnung im zuletzt ziemlich zerrupften Manuskript und habe das Gefühl, dass es doch kein so hoffnungsloser Fall ist, wie ich gestern noch dachte.

Und der Abend bietet sogar noch eine weitere willkommene Abwechslung: Eine Geburtstagsfeier via Zoom, einem Programm für Videokonferenzen. Ich sehe in einige bekannte und viele unbekannte Gesichter auf dem Bildschirm, die fröhlich in ihre Kameras lachen. Virtuell wird auf das Geburtstagskind angestoßen, im verbindungsbedingt wahrscheinlich ziemlich asynchronen Chor ein Ständchen gesungen und soweit geplaudert, wie es in solch einer Runde eben möglich ist. Ich freue mich darüber, dabei sein zu dürfen, und beginne mich schon mal mit dem Gedanken anzufreunden, diese Variante auch für meinen Geburtstag in zwei Wochen in Betracht ziehen zu müssen …

Samstag, 11. April 2020

Isolation, Tag 24: Verzweiflung und Vertrauen

Karfreitag: kein guter Tag. Dabei beginnt er noch ganz gut, ich schaue mir einen evangelischen Gottesdienst im Fernsehen an, der schön ist, mich aber auch nachdenklich stimmt. In der Predigt geht es um das Gebet aus Psalm 22, was für viele Christen derzeit nicht nur durch Ostern, sondern auch durch ihre Sorgen und Ängste angesichts der aktuellen Situation vielleicht präsenter denn je ist. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ heißt es darin direkt zu Anfang.

Es gibt Menschen, die die Corona-Epidemie als „Strafe Gottes“ deklarieren. Der strafende Gott galt in der christlichen Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte lange als unstrittig.* Naturkatastrophen und Seuchen, aber auch kollektive oder persönliche Schicksale werden als „Strafe Gottes“ gedeutet, so wie es uns einige Geschichten aus dem Alten Testament nahelegen. Die meisten modernen Christen teilen diese Auffassung aber nicht mehr. Sie sehen die Krise eher als Anlass, der ein Umdenken in der Bevölkerung bewirken sollte. Ein Anlass, Routinen in Frage zu stellen, Verantwortung zu übernehmen, Solidarität neu zu entdecken, … Ein Anlass, der auch als große Chance für das Gemeinwohl verstanden werden kann und uns an einen „guten Gott“, glauben lässt, der uns durch diese schwere Zeit begleitet und uns vielleicht sogar bestärkt aus ihr herausgehen lässt.

Nach dem Gottesdienst setze ich mich für eine Runde auf das Rennrad und im Anschluss daran an mein Manuskript. Um es kurz zu machen: Ich komme nicht voran. Während ich da also so vor den Worten und Sätzen sitze und an ihnen verzweifle, erlebe ich mal wieder eine kleine persönliche Krise, die angesichts der großen globalen Krise dieser Tage zwar nichtig erscheint, mir im Moment ihres Eintretens deutlich mehr zu schaffen macht.

In meiner Verzweiflung gelingt es mir heute zum ersten Mal nicht, mein zu Beginn des Monats gesetztes „Tagesziel“ einzuhalten. Tag 10 im Kalender rot einzukreisen ist ein doofes Gefühl und ich ärgere mich über mein Unvermögen, so ein Monatsvorhaben auch nur einmal einen gesamten Monat lang durchzuhalten. Seitdem ich das bewusst versuche, ist es mir noch nie gelungen und jetzt muss ich 20 Tage warten, um einen neuen Versuch starten zu können. Aber sind nicht auch diese 20 Tage eine Chance? Eine Chance, das Vorhaben morgen wieder in Angriff zu nehmen und das Ziel zu verfolgen, es bei dem einen roten Kreis auf dem Kalenderblatt zu belassen?

Ich denke zurück an Psalm 22 und die Verzweiflung, die darin zum Ausdruck gebracht wird. Und ich denke an die bevorstehenden Osterfeiertage, an denen nicht mehr die Kreuzigung Jesu, sondern die Auferstehung und das Leben nach dem Tod im Vordergrund stehen. Und auch wenn ein mögliches Scheitern an einem Manuskript oder der Dissertation und ein Abwenden des Ganzen natürlich in keinem Verhältnis zu Tod und Auferstehung oder der Corona-Krise und ihrer globalen Bewältigung stehen, wage ich es heute, in Bezug auf meine eigene Gefühlslage gedankliche Parallelen zu ziehen. So nehme ich die Verzweiflung an und besinne mich auf Vertrauen und Zuversicht. „Morgen wird wieder besser“, sage ich mir also zum Ende des Tages und es ist kein verzweifeltes Hoffen, sondern ein zuversichtliches Vertrauen, das mich in dieser Nacht trotz kleiner und großer Krisen ziemlich ruhig schlafen lässt.

P.S.: Dem „Klagepsalm“ 22 (Leiden und Herrlichkeit des Gerechten) voraus geht übrigens das „Danklied“ Psalm 21 (Gottes Hilfe für den König), folgen tut das „Vertrauenslied“ Psalm 23 (Der gute Hirte). Auch wenn er sich thematisch klar davon abgrenzt, könnte ich mir keinen besseren Rahmen vorstellen.

* Karsamstag spreche ich darüber am Telefon mit meiner Oma, die mir bestätigen wird, dass dies in der Generation über ihr, aber auch in ihrer Generation durchaus noch verbreitet war.

Freitag, 10. April 2020

Isolation, Tag 23: Vergänglichkeit

Es gibt Sätze, die in diesen Tagen ziemlich häufig fallen. Sätze zu Infektionszahlen („Wir können uns nicht in Sicherheit wiegen.“), zur Lage in den Krankenhäusern („Wir dürfen das Gesundheitssystem nicht überlasten.“) oder zu den Kontaktbeschränkungen („Wir müssen uns an die Regeln halten.“). Und immer wieder wird eine Frage gestellt: „Wie lange noch?“

Der wohl häufigste Satz, den ich in diesen Tagen aus der Berichterstattung heraus wahrnehme, beantwortet das so drängende „Wie lange noch?“ technisch nicht. Trotzdem wird er nicht selten als Antwort auf genau diese Frage eingesetzt: „Wir stehen immer noch ganz am Anfang.“ Sobald ich diesen Satz in diesen Tage höre, frage ich mich „Wie lange noch?“ – und die Katze beißt sich in den Schwanz.

Am Morgen lese ich ausnahmsweise mal wieder etwas intensiver ein paar aktuelle Meldungen und stolpere dabei über zwei neue Formulierungen. „Wenn jetzt die Beschränkungen aufgehoben werden, sind wir wieder ganz am Anfang“, sagt Viola Priesemann, eine Physikerin vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, die in einer Simulationsstudie die Auswirkungen der Kontaktsperren auf die Infektionszahlen untersucht hat.* Und der Brandenburger Ministerpräsident Dietmar Woidke konstatiert in Bezug auf die Debatte zur Lockerung der Regelungen: „Wir sind jetzt mittendrin in der Pandemie.“**

Also doch nicht mehr ganz am Anfang? Ich bin verwirrt und muss zugeben, dass mich die Rede vom „Anfang“ mittlerweile nervt. Durch das nicht absehbare „Ende“ fehlt einfach der Bezugsrahmen. Durch das nicht absehbare „Ende“ hat „ganz am Anfang“ einen ziemlich faden Beigeschmack. Vor 73 Tagen wurde erstmals eine Sars-CoV-2-Infektion in Deutschlang bestätigt. Vor 45 Tagen begann die Verbreitung im Kreis Heinsberg und das Wort „Quarantäne“ war plötzlich in aller Munde. Vor 24 Tagen wurden in Berlin und vielen anderen Bundesländern die Schulen geschlossen. Seit 23 Tagen pflege ich soziale Kontakte ausschließlich virtuell. Kann das wirklich noch „ganz am Anfang“ sein?

Ich werde unruhig und schiebe den Gedanken fürs erste beiseite. Heute ist Gründonnerstag, Ostern steht vor der Tür, Urlaub steht im Kalender und das Rennrad im Keller will bewegt werden. Nach der Brandenburg-Frustration vom Wochenende fahre ich heute wieder meine „Hausrunde“. Kronprinzessinnenweg, Havelchaussee, Heerstraße, Königsweg. Halb Straße, halb Radweg. Obwohl dieser direkt neben der Autobahn verläuft, ist es einer der besten und beliebtesten in Berlin (wenn nicht sogar der beste und beliebteste). Ich teile diese Einschätzung und bin trotzdem jedes Mal überrascht darüber, wie gering die Ansprüche an „gute“ Radwege in der Millionenstadt doch sein können – inkl. meine eigenen.

Der Radweg ist ziemlich dicht befahren, aber auf der Havelchaussee wird es ruhiger. Hier sind eigentlich fast nur noch Rennradfahrer unterwegs. Es ist eine der wenigen Straßen Berlins mit spürbaren Anstiegen. Das freut die Rennradler und lässt die Freizeitradler Abstand nehmen. In einfacher Ausführung umfasst meine Hausrunde 30 km, in doppelter 50 km, und am Ende bieten sich diverse Abstecher an, die in verschiedensten Längen zwischen 30 und 50 km resultieren. Ich entscheide mich heute für eine einfache Runde mit Abstecher über die Spinner-Brücke und durch Schlachtensee, sodass zurück zuhause 38 km auf dem Tacho stehen.

Beim Radfahren beschäftigen mich dann auch wieder ganz banale Dinge. So stelle ich unter anderem fest, dass das Elasthan in meiner Radhose sich langsam aufzulösen beginnt. Das ist mir schon nach der letzten Wäsche aufgefallen. Angesichts akuter Unlust, nach einer neuen Hose zu suchen, hatte ich es aber erstmal erfolgreich verdrängt. Jetzt sehe ich sie ganz deutlich, diese kleinen Gummipünktchen, die aus dem Stoff hervortreten und mir signalisieren, dass dieser wohl nicht mehr lang seine Form behalten wird. Wie bei den alten Badeanzügen, die man nach Jahren im Schrank genau aus diesem Grund aussortieren muss.

Die Radhose ist leider meine einzige, ich habe sie 2013 gekauft und habe sie seitdem auf vielen tausend Fahrradkilometern strapaziert. Zwar hatte ich zwischendurch durchaus mal nach einer zweiten zum Wechseln gesucht, gefunden habe ich bislang aber keine. So geht es mir mit unzähligen Lieblingsteilen. Klamotten, die ich seit 3, 5, 7 oder sogar seit 17 Jahren trage, füllen meinen Kleiderschrank und das liegt nicht daran, dass ich zu selten ausmiste, sondern daran, dass es mir so schwer fällt, sie zu ersetzen. Auf dem T-Shirt, das ich mir nach dem Duschen anziehe, steht der Name meines ehemaligen Gymnasiums. Ich war 12 oder 13 als diese T-Shirts gedruckt wurden. Das Schullogo auf dem Rücken ist lange nicht mehr aktuell und löst sich wie das Elasthan in der Radhose nach und nach auf. Zwei kleine Löcher sind mir zuletzt schon aufgefallen, heute entdecke ich am Ärmel ein weiteres.

So oder so ähnlich ging es mir in den vergangenen Monaten mit einigen Lieblingsteilen. Sie zollen dem Dauertragen Tribut, verlieren Form und Farbe und bekommen Löcher. Sie machen mich aufmerksam auf ihre Vergänglichkeit. Und ich wehre mich dagegen, diese Vergänglichkeit zu akzeptieren. Nicht, weil ich die alten Klamotten besonders schön finde. Der Spleen ist eigentlich nur darauf zurückzuführen, dass ich mich in ihnen zumindest einigermaßen wohl fühle, während ich mir in neuen Klamotten oft auf lange Zeit ziemlich verkleidet vorkomme. Nur selten habe ich in den letzten Jahren überhaupt neue Lieblingsteile gefunden. Also trage ich sie trotzig weiter, die löchrigen T-Shirts, formlosen Pullover und zerrissenen Hosen und schere mich nicht darum, wie (un)zuträglich dies meinem äußeren Erscheinungsbild ist und was andere darüber denken.

Und die Radhose? Die müsste wohl doch bald ersetzt werden. Mehr als das Wohlfühlen zählt hier die Funktionalität und in diesem Fall ist Vergänglichkeit leider nicht nur mit optischen Einbußen verbunden. Aber bislang steht die Auflösung des Elasthans ja noch „ganz am Anfang“. Die Frage ist nur: „Wie lange noch?“

* https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-forscher-legen-erste-zahlen-zur-wirksamkeit-von-kontaktsperren-vor-a-f87cbd96-acb7-4013-8ae4-652b45008d65
** https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/04/woidke-brandenburg-warnung-lockerungen-ausgeangsbeschraenkungen.html

Donnerstag, 9. April 2020

Isolation, Tag 22: Zufrieden unzufrieden

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und heute gibt es nicht viel zu berichten. Einen weiteren Tag lebe ich so ins Blaue hinein. Gehe laufen, sitze auf dem Balkon, verpflege die Pflänzchen und lasse die Zeit verstreichen. Das hat zur Folge, dass ich einen von 13 bis 14 Uhr angesetzten Workshop verpasse, weil ich im Kopf hatte, dass er von 14 bis 15 Uhr stattfinden soll und mich nicht bemüht habe, noch einmal nachzusehen. Egal, der Workshop war freiwillig, offiziell habe ich eh Urlaub und in diesem Fall könnte ich mir im Nachhinein sogar die Aufzeichnung ansehen. Die im gestrigen Beitrag angeteaserte Videokonferenz klappt heute aber. Zeitgleich hätte zwar eine andere Besprechung stattfinden sollen, die ich bei der Planung vergessen hatte, aber ich habe Glück: Da einige andere Teilnehmer absagen, wird die Runde insgesamt auf nächste Woche verschoben. Diesen und weitere Termine für nächste Woche notiere ich mir heute mal nicht nur gedanklich und hoffe, dadurch zu vermeiden, sie nicht auch zu versäumen.

Am Abend schreibe ich einen Artikel für den Blog, bin mit dem ersten Versuch allerdings erstmals so unzufrieden, dass ich mich entschließe, ihn in dieser Form nicht zu veröffentlichen. Das Thema möchte ich nach wie vor aufgreifen, aber über die Wortwahl muss ich noch einmal nachdenken und auf den Punkt, auf den sie hinauslaufen sollte, bin ich auch nicht gekommen.

Wie die Wortwahl des Blogartikels verwerfe ich dann auch einen großen Teil der Worte, die ich heute in das Manuskript getippt habe, an dem ich gerade arbeite. Aus drei getexteten Absätzen streiche ich am Ende so viel heraus, dass magere drei Sätze stehen bleiben. „So geht das wohl mit dem Einkürzen“, denke ich und sehe den Verlust von Text zumindest teilweise auch positiv. ‚Einkürzen‘ fiel mir doch bislang noch so schwer. Heute scheint es ganz einfach zwischen relevanten und (interessanten aber) irrelevanten Inhalten zu unterscheiden und letztere herauszustreichen.

Die drei Sätze, die übrig bleiben, wirken dann allerdings doch etwas frustrierend und ich bin unzufrieden angesichts meiner unstrukturierten Arbeitsweise und des langsamen Vorankommens. „Was soll’s?“, denke ich mir wie schon so oft in diesen Tagen in diesem Kontext (Arbeit an der Dissertation) und speichere die gestrichenen Textabschnitte in einem extra Dokument zum Aufbewahren. Für irgendetwas könnten sie ja doch noch gut sein. Das Manuskript hingegen soll in sich schlüssig sein und eine klare Linie verfolgen, „der Leser muss an die Hand genommen werden“ hieß es seitens der Koautorin – natürlich noch vor Corona.* Die Sätze, die stehen geblieben sind, scheinen diesem Plan gerecht zu werden. Zufrieden unzufrieden beende ich also die Arbeit und beschließe den Tag. Vielleicht gelingen ja morgen vier Sätze.

* Bei der Erinnerung an diese Aussage, beginne ich ein ums andere Mal zu sinnieren, wann wir uns wohl wieder ohne seltsames Gefühl und Gedanken an Viren und Infektionsketten die Hand schütteln werden. Aber das ist ein anderes Thema... Für einen anderen Beitrag...

Mittwoch, 8. April 2020

Isolation, Tag 21: Schwindendes Zeitgefühl

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und ich antworte: „Guten-Morgen-Hangout mit einer Freundin, laufen, einkaufen, meine Pflänzchen versorgen, an der Dissertation arbeiten, mit Freunden, Bekannten und Arbeitskolleginnen chatten, häkeln, Medien konsumieren, …“

Heute beginnt es mich zu langweilen. Nicht die Dinge an sich, sondern das Tagebuch schreiben. Mir der sinkenden Volatilität der Situation sinken auch meine wechselhaften Blickwinkel auf ebendiese und die tiefgründigen Gedanken darüber. Aus meinem Isolationsalltag gibt es gefühlt nicht viel zu berichten. Vielleicht lege ich ein paar Tage Pause ein. „Im Norden nichts Neues“ war der Arbeitstitel des heutigen Beitrags. Stattdessen entscheide ich mich für „Schwindendes Zeitgefühl“.

Die Erlebnisse auf meiner morgendlichen Laufrunde sind spektakulär unspektakulär. Trotz bestem Wetter scheinen nicht besonders viele Menschen unterwegs zu sein, eher so viele, wie an einem sonnigen Dienstagvormittag „vor Corona“. Die meisten Läufer scheinen solche zu sein, die auch „vor Corona“ schon einigermaßen regelmäßig gelaufen sind. Vielleicht hat ein erster Teil der „erst seit dem Corona-Lockdown Läufer“ das Laufen als neues Hobby bereits wieder aufgegeben. Vielleicht beginnt sich meine subjektive Wahrnehmung von „vor“ und „während Corona“ aber auch zu vermischen und in Wirklichkeit waren an sonnigen Dienstagvormittagen „vor Corona“ doch noch deutlich weniger Menschen unterwegs.

Egal, wenig Menschen bedeutet auch: Bahn frei für ein flottes Tempo. Aber heute tragen mich die Beine nicht wie gewohnt und ich bin ziemlich langsam unterwegs. Das hat zur Folge, dass ich mich darin verliere, die Umgebung zu analysieren. Was hat sich in den letzten Monaten verändert, was in den letzten Wochen, was seit dem letzten Lauf? Es ist stetig heller und wärmer geworden, die Natur ist aus dem Winterschlaf erwacht, Knospen und Blätter wachsen, man sieht wieder mehr Vögel im Wasser und in der Luft, Jogger und Spaziergänger sind immer leichter bekleidet. Der See ist klar, am Ufer wiegt sich das Schilfrohr im Wind, in den kleinen Buchten tummeln sich Familien, Paare und Menschen, die wie ich alleine unterwegs sind. Die ersten von ihnen wagen sich ins Wasser und läuten die Badesaison ein. Im See beobachtet man zwar ganzjährig Schwimmer, aber heute sind es augenscheinlich das erste Mal nicht die ganz Abgehärteten, sondern solche, die im Herbst und Winter auf das Baden verzichten und erst im Frühjahr wieder damit beginnen. Während ich so um den See trabe, stelle ich mal wieder fest, dass es in meinem Bezirk Ecken gibt, an denen man sich wirklich wie im Urlaub fühlen kann. Insofern habe ich es mit dem Zwangsurlaub in der Isolation definitiv noch sehr gut erwischt!

Nach dem Laufen und Duschen ziehe ich los, um ein zweites Mal die Einkäufe für meine Nachbarn zu erledigen und bin erstaunt, dass seit dem ersten Mal schon wieder fast eine Woche vergangen ist. Mein schwindendes Zeitgefühl bestätigt sich in der Konversation mit einer Freundin, mit der ich mich gestern (Montag) für eine Videokonferenz verabredet habe. Ich schrieb von „Mittwoch oder Donnerstag?“, wir verständigten uns auf „morgen“, sie rechnete folglich mit heute, ich ging jedoch von Mittwoch aus. Klingt kompliziert, ist es auch. Wenn uns kein zweites Missverständnis dazwischen kommt, sollte die Videokonferenz dann aber morgen stattfinden.*

Am Abend backe ich Brötchen mit meinem vor acht Tagen angesetzten Hefewasser. Diesbezüglich hatte ich die Zeit zumindest noch ganz gut im Blick. Das (/die Brötchen) geht (/gehen) erstaunlich gut (auf), was auch daran liegen könnte, dass ich dem Hefewasser misstraut und ein halbes Päckchen Backpulver in den Teig geschmuggelt habe. Am Ende des Tages sitze ich mit meinem Häkelprojekt und meinen frisch gebackenen Brötchen auf dem Sofa, schaue Youtube-Videos, mache mir nochmal klar, dass heute Dienstag und am Sonntag Ostern ist und habe das Gefühl, dass es mir insgesamt gerade irgendwie noch viel zu gut geht …

*Um das Verständnis des Missverständnisses zu erleichtern oder es völlig unverständlich zu machen: Die Blogartikel erscheinen um einen Tag zeitversetzt. Ich schreibe gerade von Dienstag, zu lesen ist der Beitrag aber erst Mittwoch. Aus eurer Sicht heute findet also die Videokonferenz statt, die wir am Montag für „morgen“ geplant hatten. Aus eurer Sicht morgen, also am Donnerstag, sollte auf dem Blog dann zu lesen sein, ob alles geklappt hat.

Dienstag, 7. April 2020

Isolation, Tag 20: Urlaub

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und heute antworte ich: „Urlaub“

Bereits im Februar hatte ich einen kleinen Osterurlaub geplant mit Besuchen in Freiburg, Würzburg und im Saarland. Diese müssen nun leider ausfallen, der Urlaub will also anders gestaltet werden. „Aber wie macht man Urlaub in Isolation?“, frage ich mich und komme schnell zu dem Schluss, dass sich meine Tagesgestaltung in der kommenden Woche im Vergleich zu den vergangenen Wochen wohl nicht deutlich ändern wird.

In Bezug auf die Arbeit werde ich meine Projektarbeit weitestgehend pausieren, viel fiel dabei aber zuletzt ohnehin nicht an. Urlaub von der Dissertation möchte ich nicht machen, zu groß ist derzeit die Motivation, voranzukommen und zumindest die Phasen, in denen ich mich trotz der Verbannung ins ablenkungsreiche Homeoffice darauf konzentrieren kann, auch während des Urlaubs zu nutzen. Und in Bezug auf die Freizeit werde ich das tun, was ich sonst auch tue.

Heute steht eine Auslieferung auf dem Plan. Seit mehreren Jahren häkle Spielzeuge für Babys und Kleinkinder und versuche, unter dem Namen „Trudis Traum“ mehr oder weniger regelmäßig und mehr oder weniger gewinnbringend ein paar davon unter die Leute zu bringen. Vergangene Woche wurden zwei Elefanten-Rasseln bestellt, die ich am Wochenende fertig gestellt habe und mit dem Rad nach Friedrichshain bringe. Mit Sicherheitsabstand unterhalte ich mich dort kurz mit einer Arbeitskollegin und ihrer Mitbewohnerin – eine willkommene Abwechslung zu den vielen digitalen Unterhaltungen dieser Tage. Auf meiner Fahrt stelle ich fest, dass es in der Berliner „Innenstadt“ deutlich ruhiger auf den Straßen zugeht, als in den Randbezirken und frage mich, woran das wohl liegen mag.

Pünktlich zum Urlaubsbeginn ziehe ich heute die kurze Hose aus dem Schrank. Beim Laufen trage ich ganzjährig kurze Hosen, aber im Alltag ist das heute die Prämiere für dieses Jahr. Zwar zeigt das Außenthermometer beim Verlassen des Hauses noch frische 12 Grad an, der strahlend blaue Himmel und die Wettervorhersage lassen mich aber nicht daran zweifeln, dass eine kurze Hose heute vollkommen angemessen sein wird. Und so sollte es auch kommen. Die Sonne strahlt vom Himmel herab und ein ums andere Mal wirkt die Welt viel zu ruhig und friedlich für das, was wir gerade auf ihr erleben.

Auf dem Heimweg passiere ich einen „Rettermarkt“. Hier werden Lebensmittel verkauft, die anderswo v. a. aufgrund eines abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatums, aber auch aufgrund von Fehl- oder Überproduktion und Schönheitsfehlern aussortiert wurden. Die Verkaufsfläche ist großzügig und der Laden nur wenig besucht und obwohl ich nichts brauche, nutze ich die momentan doch eher seltene Möglichkeit, einfach mal kurz „reinzuschauen“. Vor der Drogerie nebenan und dem Supermarkt ein Stück weiter waren die Schlangen ziemlich lang, bei Mustafas Gemüse-Kebap, wo sonst täglich dichtgedrängt tausende von Menschen warten, stand wiederum kaum jemand an. Die übliche Schlange hätte durch die Abstandsregelung wohl bis in den angrenzenden Bezirk gereicht, vielleicht hält allein diese Vorstellung die Menschen gerade davon ab, sich anzustellen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass der Großteil der Kunden Touristen sind, auf die Mustafa (der gar nicht wirklich Mustafa heißt) wie so viele Berliner UnternehmerInnen gerade verzichten muss.*

Im Rettermarkt kaufe ich neben zu kleinen Kartoffeln, krummen Gurken, Energieriegeln und Sojamilch spontan einen Becher Eis mit der verlockenden Aufschrift „Happy Coco! Vegan Ice Delight - Choco Heaven”, von dem ich zurück zuhause auch gleich eine etwas zu große Portion genieße (um nicht zu sagen alles). Was soll’s, denke ich mir, im Urlaub darf man das!**

*Informationen zum Phänomen Mustafas Gemüse-Kebap finden die Nicht-Berliner-LeserInnen z. B. unter http://www.bz-berlin.de/klassiker/warum-mustafas-gemuese-kebap-so-beliebt-ist

**Um ehrlich zu sein, hatte ich nach dem Becher Eis, der locker auch für zwei Personen gereicht hätte, durchaus ein etwas schlechtes Gewissen. Eine Freundin konnte mich aber davon überzeugen, dass so eine kleine „Eis-Eskalation“ (Esskalation/Eiskalation?) in der Isolation kein größeres Drama ist und zum Abendessen kompensiere ich das Vitamin-Defizit im Eis dann auch mit einer ordentlichen Portion Gemüse.

Montag, 6. April 2020

Isolation, Tag 18 und 19: Wochenende wie immer

In den vergangenen drei Wochen hat sich so vieles verändert, dass schnell daher gesagt ist, es sei „nichts mehr so wie es mal war.“ Glücklicherweise trifft das natürlich nicht zu. Es erscheint mir wichtig, mir all die Veränderungen dieser Zeit bewusst zu machen, um mich auf sie einlassen zu können, einen guten Umgang mit ihnen zu finden, mich darüber mit anderen auszutauschen und mir zu sagen, dass es nicht „für immer“ so bleiben wird. Aber manchmal ist es auch ganz beruhigend, mir bewusst zu machen, dass so einiges gerade trotz aller widrigen Umstände eigentlich noch wie immer ist.

So fühlte sich das Wochenende für mich fast normal an. Ich bin insgesamt viel alleine (unterwegs) und nur alle zwei bis drei Wochen mal samstags oder sonntags verabredet. Ansonsten bestehen meine Sams- und Sonntage aus: Lange schlafen bzw. im Bett liegen bleiben, Laufen oder Radfahren, Aufräumen und Putzen, ein bisschen an der Doktorarbeit herumdoktorn, Kochen und Essen, am Samstag ggf. vorher Einkaufen, auf dem Sofa sitzen, Dokumentation ansehen, Häkeln, Ausruhen. All das kann ich auch unter Berücksichtigung der aktuellen Regelungen zur Kontaktsperre.

Samstag entscheide ich mich für eine Laufrunde. Gegen Mittag geht es los, 10 km durch den nahegelegenen Park und um den See, meine übliche Runde, durchschnittliches Tempo. An die körperliche Belastungsgrenze gehe ich heute nicht, an der seelischen befinde ich mich doch derzeit schon oft genug (wobei ich mich die letzten Tage auch seelisch durchaus erfreulich stabil fühle). Bei sonnigem Wetter sind noch einige andere unterwegs, aber es ist gut möglich, Abstand zu halten. Die meisten anderen Jogger überhole ich trotz des durchschnittlichen Tempos, nur zwei ambitionierte Jugendliche sind schneller als ich. Am Ende der Runde laufe ich noch über den Wochenmarkt in meinem Viertel, für eine Freundin soll ich dort frisch gepresstes Leinöl besorgen. Der Markt ist zwar aufgebaut, der Verkäufer der Ölmühle ist aber leider nicht vor Ort. Gedanklich notiere ich mir, im Laufe der Woche anzurufen und nachzufragen, auf welchen Märkten zurzeit noch verkauft wird.

Nach dem Misserfolg am Markt lockt mich Brötchenduft in den Bioladen gegenüber. Normalerweise backe ich zuhause fast ausschließlich selber Brot bzw. Brötchen, doch dafür fehlt mir im Moment leider die Hefe. Zu viele andere scheinen durch Corona von jetzt auf gleich zu begeisterten Hobby-Bäckern mutiert zu sein und die Hefe, sowohl frisch als auch trocken, ist großräumig ausverkauft. Die Brötchen im Bioladen sind v. a. im Vergleich zum Selberbacken teuer – ein Luxus, den ich mir eher selten gönne. Aber heute darf es mal wieder sein: Zweimal Dinkel-Sonnenblume, zwei Vollkorn-Krusti, ein Vinschgerl. Ich freue mich, dass trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit noch alle meine Lieblingssorten im Angebot sind.

Zurück zu Hause esse ich erstmal was, trödel ein bisschen am Computer herum und telefoniere dann eine ganze Weile mit einer Freundin. Schnell wird es Abend, Zeit zum Kochen, Zeit zum Nachrichten gucken, Zeit zum Häkeln, Zeit, ins Bett zu gehen. Was für andere langweilig klingen mag, war für mich ein „normaler“, angenehmer Samstag.

Der Sonntag beginnt ähnlich: Lange schlafen, noch länger lieben bleiben, gegen Mittag zu einer sportlichen Aktivität aufraffen. Es ist noch sonniger und wärmer als gestern, der Wind hat auch etwas nachgelassen und ich entscheide mich, die Frischluftzufuhr zu steigern und eine längere Rennradtour zu machen. Über Teltow und Stahnsdorf fahre ich raus ins Brandenburger Umland, passiere Ortschaften wie Güterfelde, Philippsthal, Saarmund und Michendorf. Hier steht die Welt gefühlt still und das nicht erst seit Corona. Hier stehen Gartenzwerge vor den Häusern und Hühnerställe dahinter. Und an der Straße steht hier und da ein Tischchen mit Marmeladen, Eiern, Kartoffeln oder anderem Gemüse. Daneben eine „Kasse des Vertrauens“. Hier glaubt man noch an das Gute im Menschen.

Landschaftlich begeistert mich das Brandenburger Umland nur wenig und auch die Radwegeinfrastruktur ist mehr als ausbaufähig bzw. gar nicht erst vorhanden. Aber eine gewisse Friedlichkeit strahlt die Gegend trotzdem aus, das muss ich ihr lassen. Am Schwielowsee entlang fahre ich über Caputh und Potsdam zurück bis Wannsee. Aufgrund von akuter Müdigkeit und Unlust auf die schon so oft gefahrenen letzten Kilometer nach Hause, schummle ich ein wenig und nehme für drei Stationen die S-Bahn. Zuhause angekommen verbuche ich trotzdem 65 km und denke, „das war genug“. Die Saison hat ja grade erst angefangen.

Zuhause koche ich mir einen Vanillepudding, kurze Zeit später gibt es dann auch schon Abendessen. Währenddessen chatte ich mit Freunden, tippe ein paar Sätze in mein Manuskript und schaue die Nachrichten und einige Youtube-Videos – die ersten auf dem Sofa, die restlichen im Bett. Am Ende war es für mich also wirklich ein ziemlich gewöhnliches Wochenende, an dem meine Stimmung im Großen und Ganzen mit den Worten „gut soweit“ beschrieben werden kann. Laufen und Radfahren leisten da wichtige Beiträge. Wie hieß es noch gleich in einem der unzähligen Podcasts, die ich in den letzten Tagen und Wochen gehört habt?

„Ich unterstütze die Initiativen der Fitness-Studios, die ihre Trainer jetzt vor die Kamera stellen und Online-Kurse und Videos anbieten. Aber mein Appell in Sorge vor den zu erwartenden Depressionen und Lagerkollern und sonstigen Angstzuständen ist: Es ist wirklich wichtig zu Laufen und Radzufahren! Weil das tatsächlich nachweislich [gegen Depressionen wirkt]. Ich sage das nochmal, weil manche glauben, dass sie mit ihrem Homeoffice-Bürostuhlyoga durchkommen: Man muss wirklich raus und Schritte machen.“

In diesem Sinne plane ich gedanklich noch die nächsten Touren und Läufe und bin gespannt, was die nächste Woche bringen wird.

Samstag, 4. April 2020

Isolation, Tag 17: Remote Leadership

Drei Wochen ist es nun schon her, dass sich mein Arbeitsleben grundlegend verändert hat. Montag und Dienstag, am 16. und 17.03., war ich zuletzt im Büro. Die Stimmung war bereits angespannt, es schien bereits wahrscheinlich, dass wir bald eine ganze Weile nicht mehr in unseren Büros arbeiten können. An besagtem Montag war vergleichsweise viel Betrieb auf den Fluren. Bewusst oder unbewusst haben wohl viele die evtl. vorerst letzte Chance genutzt, sich mit KollegInnen abzusprechen, Materialien für die Heimarbeit verfügbar zu machen, ein paar Dokumente auszudrucken. Dienstag, einen Tag später, war es schon deutlich ruhiger und den Plan, mittwochs noch einmal für eine letzte Teamabsprache ins Büro zu fahren, setzte ich nicht mehr in die Tat um. Zu diesem Zeitpunkt wurde bereits dazu aufgerufen, alle nicht unbedingt notwendigen Treffen zu vermeiden. Mittwoch der 18.03. war also Tag 1 meiner Isolation.

Manche Elemente meiner wöchentlichen Routinen haben sich seitdem gar nicht, einige ein wenig und etliche deutlich verändert. Einige sind derzeit ersatzlos gestrichen, einige andere sind ganz neu hinzugekommen. Darunter fällt unter anderem eine motivierende E-Mail vom Vorstand, die wir nun schon zum dritten Mal am Ende der Arbeitswoche erhalten. Diese zählt für mich definitiv zu den positiven Veränderungen der vergangenen Wochen.

Mit der Führungskultur an meinem Institut bin ich sonst oft eher unzufrieden. Ich würde mir insgesamt weniger Distanz bzw. mehr Vernetzung zwischen den verschiedenen Hierarchieebenen und insbesondere ein wenig mehr Wertschätzung für „niedere Tätigkeiten“ bzw. das mühsame Aufrechterhalten des Tagesgeschäfts wünschen. Einige andere Arbeitsbereiche stehen dem Vorstand inhaltlich näher als andere – hier wird aus meiner Sicht weniger distanziert kommuniziert und stärker „an einem Strang gezogen“. In meinem Arbeitsbereich habe ich zur Führungsriege hingegen nur wenig Kontakt und teilweise sogar das Gefühl, „da oben“ wisse man gar nicht, was ich eigentlich genau mache. Das kann ganz schön frustrierend sein.

Meine Vorstellung von „guter Führung“ wurde zuletzt durch das bereits in einem anderen Artikel erwähnten Podcast-Interview mit Sabine Rückert geprägt. Zwar antwortet Rückert eher ausweichend auf die Frage, was eine gute Chefin ausmacht, doch zwei Aspekte hebt sie dann doch sehr deutlich hervor: Wahrnehmung und Wertschätzung.

„Ich bin die Chefin“, so Rückert, „aber ich komme mir nicht so vor.“ Und erklärt dann in Bezug auf ihre Mutter, die ebenfalls erfolgreich ein Unternehmen geführt hat: „Also erstens glaube ich, dass meine Mutter das nicht anders gemacht hat als ich. Meine Mutter ist immer ganz nah bei den Leuten gewesen. (…) als das Unternehmen [gegründet] wurde, war sie in der Putzkolonne dabei, die war in der Bügelstube mit dabei, die war immer mit dabei. Bei allen Betriebsfesten war sie dabei, bei der Weihnachtsfeier. Die wusste alles. Meine Mutter wusste alles – von allen. Weil sie sich für die Leute interessiert hat und weil sie sie wirklich gern gehabt hat. (…) ich weiß jetzt nicht, ob ich so eine gute Chefin bin, wie meine Mutter eine war. Aber, dass ich die Leute hier wahnsinnig gern hab, das stimmt. Also ich liebe die Leute. Das muss ich jetzt mal so sagen. Jetzt weine ich auch gleich wieder, weil es wirklich so ist: Ich komme morgens rein und weiß schon, die ganzen Leute, die sich hier ein Bein ausreißen für diese Zeitung. Und dann, wenn ich auch wieder mit in der Konferenz sitze, dann kommen mir manchmal die Tränen. Weil die Leute so gut sind, die hier sitzen. Und sich so eine Mühe machen. Und so unglaublich sympathisch sind und liebenswürdig. Das sind so tolle Leute – da muss man nicht führen. Man muss nur aufpassen, dass ihnen nichts passiert.“

Ich erwarte natürlich nicht, dass unser Vorstand angesichts meiner Arbeit (vor Freude) in Tränen ausbricht. Auch erwarte ich nicht, dass sie alles von allen bzw. alles über alle wissen. Aber ein etwas häufiger signalisiertes Interesse für die (mühevolle) Arbeit in den einzelnen Bereichen und für die MitarbeiterInnen, die dahinter stehen, könnte schon einiges verändern. Ein bisschen mehr Wahrnehmung und Wertschätzung eben. Ein bisschen mehr „Danke für deine Arbeit“ und vielleicht ab und zu ein ernst gemeintes „Wie geht es dir?“.

Und nun erhalte ich also seit drei Wochen wöchentlich eine E-Mail. Eine E-Mail, die Sätze enthält wie „[W]ir haben Hochachtung vor Ihrer Leistung und Ihrem Engagement!“ Die auf die Herausforderungen eingeht, denen viele von uns gerade entgegenstehen. Die neben Beruflichem auch Persönliches thematisiert. Die uns Anregungen für Dehn- und Sportübungen am Arbeitsplatz an die Hand gibt, uns für unsere Geduld und unser Engagement dankt, uns viel Kraft und trotz allem ganz viel gute Laune wünscht und die stets endet mit den Worten „Passen Sie gut auf sich auf und bleiben Sie gesund!“

Die E-Mail richtet sich an die gesamte Belegschaft. Es wird nicht unterschieden zwischen Post-Doktoranden, WiMis, StuMis, Fach-KoordinatorInnen, Verwaltung und EDV und auch nicht zwischen verschiedenen Arbeitsbereichen. Die E-Mail ist wohlformuliert, sie klingt für mich ernst gemeint und nicht nach leeren Worten. Es ist eine E-Mail, auf und über die ich mich in diesen Tagen ehrlich freue. Die Inhalte dieser E-Mail sind wohl genau diejenigen, die ich während des regulären Betriebs der letzten Jahre vermisst habe. Und ich überlege mir, ob ich es wagen sollte beim Vorstand anzuregen, die Routine der wöchentlichen Nachricht an die Belegschaft über die Corona-Krise hinaus beizubehalten.

Freitag, 3. April 2020

Isolation, Tag 16: Einkäufe und Nachbarschaftshilfe

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und heute antworte ich „den Nachbarn helfen.“

Bereits vor drei Wochen bin ich dem allgemeinen Aufruf gefolgt, sich solidarisch zu zeigen und besonders gefährdete Personen zu unterstützen, z. B., indem man ihnen die Einkäufe abnimmt. Mein Angebot über die Plattform nebenan.de wurde von anderen Nutzern zunächst zwar freundlich begrüßt, Unterstützungsbedarf meldete aber niemand an. Diese Woche war es dann doch soweit und eine Frau aus der unmittelbaren Nachbarschaft erkundigte sich, ob ich ihr und ihrem Mann bei den Einkäufen behilflich sein könnte.

Ich möchte ehrlich zugeben, dass ich im ersten Moment zögerte. Vor drei Wochen habe ich meine Einkäufe noch mehrmals wöchentlich und ohne besondere Einschränkungen erledigt. Für andere einkaufen? „Kein Problem!“, dachte ich damals. Die ersten Meldungen über Hamsterkäufe von Nudeln und Toilettenpapier kursierten zwar schon in den Medien, aus meiner Sicht war aber eigentlich alles wie immer. Die aktuellen Maßnahmen zur Kontaktsperre schienen mir in weiter Ferne. Schlangen vor den Supermärkten, gähnend leere Regale und eine rationierte Ausgabe bestimmter Produkte? Das war für mich gar nicht vorstellbar. Wie naiv von mir, denke ich heute. Denn die Situation hat sich deutlich verändert. Und damit auch mein eigenes Einkaufsverhalten.

Größere Einkäufe habe ich nie gerne erledigt. Ich gehe lieber jeden oder jeden zweiten Tag und decke meinen täglichen Bedarf als dass ich Wocheneinkäufe plane und Vorräte anlege. Plötzlich ist Einkaufen aber mehr als „nach der Arbeit noch kurz in den Supermarkt.“ Plötzlich versuche ich, wie die meisten von uns, möglichst selten und vorausschauend einzukaufen. Ein- bis zweimal pro Woche, das muss reichen.

Das Einkaufen selbst ist alles andere als unbeschwert. Im Laden versuche ich Abstand zu halten, mich nicht unnötig lange aufzuhalten und trotzdem nichts Wichtiges zu vergessen. Gar nicht so einfach. Die meisten Läden hier haben eine „Wagenpflicht“ eingeführt und lassen nur noch eine bestimmte Anzahl an Kunden gleichzeitig rein. Die üblichen Schlangen vor den Kassen haben sich auf die Parkplätze verlagert. Die KassiererInnen sitzen hinter Plexiglasscheiben, die Kunden sollen wenn möglich bargeld- und idealerweise kontaktlos bezahlen. Die Funktion wurde bei meiner EC-Karte leider deaktiviert. Da die Kunden hinter mir mittels aufgeklebter Warnstreifen am Boden daran erinnert werden, 1,5 Meter Mindestabstand einzuhalten, habe ich zumindest keine Sorge mehr, es könne jemand einen Blick auf meine PIN erhaschen. Statt wie sonst hinter dem Kassenbereich räume ich die Einkäufe erst draußen in meinen Rucksack. Ich bin froh, wieder an der frischen Luft zu sein, und möchte die Wartenden vor dem Eingang nicht unnötig aufhalten.

Und nun soll ich also für die „Nachbarn“ einkaufen. Möchte ich das überhaupt noch? Ich könnte auch Nein sagen. Mein Angebot war unverbindlich, die Umstände haben sich geändert … Ich sage Ja. „Ja, ich helfe gerne“, sage ich, und bin mehr als unsicher, ob ich es wirklich so meine. Doch dann wird auf mein Ja mit so viel Freundlichkeit und Dankbarkeit reagiert, dass meine Zweifel schnell verfliegen. In einem kurzen Telefonat klären wir alles Organisatorische, die Einkaufsliste wird mir per Whatsapp zugeschickt. Die Liste ist umfangreich, ich soll sie aber ruhig auf das reduzieren, was ich tragen kann.

In der Hoffnung einen vergleichsweise ruhigen Zeitpunkt zu erwischen, ziehe ich um Punkt 12, unmittelbar nach meiner Laufrunde, los. Im Bioladen bin ich dann fast die einzige Kundin und eine Wagenpflicht gibt es hier auch nicht – sehr angenehm! Die ersten Sachen sind schnell gefunden, bezahlt und in den Rucksack gepackt und ich begebe mich zum gegenüberliegenden Supermarkt. Auch hier ist nicht allzu viel los, mein Plan scheint also in die Tat aufzugehen. Am Eingang muss ich nur kurz warten bis mir ein
freundlicher „Wagenverteiler“ einen frisch desinfizierten Einkaufswagen aushändigt und ich den Laden betreten darf. Viele Produkte auf der Liste habe ich für mich selber schon sehr lange oder sogar noch nie eingekauft, sodass ich erstmal suchen muss und insgesamt ungewohnt lange brauche. Entgegen meiner Erwartung bin ich heute aber ziemlich entspannt. Ich konzentriere mich auf die Liste, versuche, beim Suchen vor den Regalen niemanden zu behindern, frage wegen nicht auffindbarer Produkte einen Verkäufer um Rat ohne ihm zu nahe zu kommen und muss an der Kasse nur feststellen, dass ich leider die Butter vergessen habe. Unter normalen Umständen wäre ich nochmal schnell zurückgerannt. Heute verlasse ich den Laden nach dem Zahlen so wie es mir angewiesen wird durch den hinteren Ein- und Ausgang, der mittlerweile zum ausschließlichen Ausgang umfunktioniert wurde, verstaue den Einkauf in Rucksack und einer zusätzlichen Transportkiste, gebe meinen Wagen zum Desinfizieren ab und gehe für die Butter noch einmal in den Bioladen.

Schwer bepackt aber zufrieden stapfe ich nach Hause, wo ich die für mich besorgten Produkte von denen für die Nachbarn trenne, letztere sorgfältig in die Kiste packe, den Gesamtpreis ausrechne und per Whatsapp durchgebe. Am Nachmittag breche ich zur vereinbarten Zeit erneut auf, um die Einkäufe in der Parallelstraße abzuliefern. Dort werde ich bereits freudig erwartet und habe keine Chance, ein kleines Trinkgeld für meine Mühe abzulehnen. Ohne zu Zögern biete ich an, in der nächsten Woche erneut zu helfen bzw. mich zukünftig stets zu melden, wenn ich für meinen Bedarf einkaufen werde und die Möglichkeit habe, etwas mitzubringen.

„Warum tut man so etwas?“, frage ich mich, als ich wieder zuhause bin. Ein bis zwei Stunden hat es mich insgesamt gekostet und das Schleppen war auch nicht ganz ohne. Zeit und Kraft, die ich sicher auch gut „für mich“ hätte nutzen können. Aber es tat gut, helfen zu können. Der kurze Kontakt zu so freundlichen Menschen, die Dankbarkeit, die mir entgegengebracht wurde, sogar das Suchen der unbekannten Produkte vor den Regalen: Trotz der widrigen Umstände hat dieser Einkauf irgendwie Spaß gemacht. Eine sinnstiftende Tätigkeit, ein unmittelbares und zufriedenstellendes Ergebnis. Alles in allem eine schöne Tagesaufgabe, denke ich mir, und bin gespannt, wann mich der nächste Auftrag ereilen wird.

Donnerstag, 2. April 2020

Isolation, Tag 15: Motivation zum Monatsanfang

Heute ist der erste April, ein neuer Monat beginnt. Wie ich am Ende auf ihn zurückblicken werde, ist noch ziemlich ungewiss. Aber ist es das nicht eigentlich bei jedem neuen Monat?

Ich mag die Monatsanfänge, sie motivieren mich in der Regel, mich in mehr oder weniger neuen Verhaltensweisen zu „üben“. Üblicherweise fasse ich dafür zunächst einen Plan und beginne dann, die Tage zu zählen, an denen ich meinen Plan einhalte. Dabei handelt es sich z. B. um Vorhaben wie „mind. 10.000 Schritte am Tag machen“, „jeden Abend eine halbe Stunde lesen“, „keine Süßigkeiten essen“, etc. Auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, einen solchen Plan jemals für einen gesamten Monat eingehalten zu haben, fasse ich fast monatlich einen neuen oder versuche es ein zweites Mal mit einem der bisherigen.

Natürlich könnte ich solche Pläne an jedem x-beliebigen Tag neu fassen und mit dem Zählen von Einhalte-Tagen beginnen. Ich tue es trotzdem vornehmlich zum Monatsanfang. Weil es das Zählen einfacher macht und, weil ich Erfolg und Misserfolg auf einem selbstgestalteten Kalender durch verschiedenfarbiges Anstreichen der Tage dokumentiere. Ein strahlend weißes Blatt zum Monatsanfang wirkt dabei deutlich motivierender als eines, auf dem bereits einige Kreise mein Scheitern anzeigen und mir den Gedanken nahelegen „auf einen versäumten Tag mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an.“ Die anderen Kalender umzublättern ist noch so ein lieb gewonnenes Ritual zum Monatsanfang. Neue Bilder, eine neue Perspektive – jeden Monat vergehen einige Tage, bis die Kalendergalerie wieder zu einem gewohnten Anblick geworden ist.

Die über die Jahre gesammelten Foto-Kalender blättere ich heute erst am Nachmittag um. Nach dem gestern verabredeten Hangout am Morgen mache ich nämlich „nur nochmal fünf Minuten“ die Augen zu und wache erst zweieinhalb Stunden später wieder auf. „Nun gut“, denke ich mir, „dann habe ich den Schlaf wohl gebraucht.“

Als ich entschließe aufzustehen, ist es für eine Laufrunde zu spät, um 14 Uhr steht eine Besprechung an. Egal, die Lust auf Laufen hält sich heute eh in Grenzen, immerhin ist die größte Müdigkeit überwunden und ich kann mich noch einigermaßen konzentriert auf den Termin vorbereiten. Erneut ist es einer, der unerwartet positiv verläuft und mich motiviert, im Anschluss noch ein wenig am Besprochenen weiterzuarbeiten. Eine halbe Stunde vor einer weiteren Besprechung um 17 Uhr beende ich die Nachbereitung der ersten und beginne damit, mich inhaltlich auf die zweite vorzubereiten. Trotz der Kurzfristigkeit gelingt auch das erstaunlich gut. Ich kann einige meiner Gedanken in die Besprechung einbringen, einige der Gedanken der Anderen nehme ich mit hinaus.

Das Alleinsein und das Arbeiten zuhause sind nach wie vor anstrengend und ich vermisse den Gang in die Bibliothek und die Fahrt ins Büro. Aber die virtuellen Besprechungen machen mir Spaß. Die Teilnehmenden wirken alle entspannter, wie sie so dasitzen in ihren Wohnzimmern und Küchen oder wie ich in meiner 1-Zimmer-Wohnung. Ein privates Arbeitszimmer scheinen die wenigsten von uns zu haben. Im Gegensatz zu mir haben die meisten aber Haustiere, MitbewohnerInnen, PartnerInnen und/oder Kinder. Die ab und zu im Hintergrund poltern, sich zu Wort melden oder durchs Bild huschen. Das bringt dann alle zum Lachen, lockert die eh schon lockere Stimmung zusätzlich auf und bringt irgendwie Leben in meine Isolation.

Spontan verlängern wir den bis 18 Uhr anberaumten Termin um eine Dreiviertelstunde, um den regen Austausch nicht abrupt unterbrechen zu müssen. Zur Belohnung bekommen wir von der zweijährigen Tochter einer Kollegin ein Abendessen aus der Spielküche serviert, tauschen am Ende noch ein paar flapsige Witze aus und winken zum Abschied alle fröhlich in unsere Kameras. An diese Art der Besprechung könnte ich mich wohl glatt gewöhnen. Und Tag 1 des neuen Monats streiche ich mir in der für diesen Monat frisch gewählten Erfolgsfarbe an.

Mittwoch, 1. April 2020

Isolation, Tag 14: Traurigkeit

Zwei Wochen bin ich nun alleine. Bis auf ein paar Sätze mit den Nachbarn und eine kurze Unterhaltung mit einer Bekannten, der ich auf meiner Radtour eine kleine Überraschung vorbeigebracht habe, habe ich keine direkten Gespräche geführt. Also solche, ohne Bildschirm dazwischen.

Heute ist kein guter Tag. Nachts kann ich kaum schlafen, liege lange wach und grüble. Stehe früh auf und lege mich eine Weile später wieder hin. Den Laptop nehme ich mit ins Bett. Ich lese ein bisschen, ich schreibe ein bisschen und ich versuche mir bewusst zu machen, dass diese Zeit irgendwann vorbei gehen wird. Aber in der heutigen Stimmung überwiegt die Angst davor, dass das alles noch viel zu lange andauern wird.

Wann werden wir uns wieder unbesorgt treffen können, jemandem ohne komisches Gefühl dabei die Hand geben oder uns zur Begrüßung umarmen? Die ersten Tage schien mir vieles noch wie eine Art „Experiment“. Ich hatte eine gewisse Motivation, den Laborgesetzen zu folgen, alles irgendwie „richtig“ und unterm Strich das Beste aus der Gesamtsituation zu machen. Aber der Gedanke, dass die Versuchsdauer noch um mindestens drei Wochen verlängert wird, ist unangenehm. Ende April möchte ich meinen 30. Geburtstag feiern, die Einladungen habe ich bereits Anfang des Jahres verschickt. Ob und in welcher Form die Feier stattfinden kann, steht in den Sternen. Die Freundin von einer Arbeitskollegin hat heute Geburtstag. Wie so viele, die in diesen Tagen Geburtstag haben, hat sie sich den Tag sicherlich anders vorgestellt.

Ich merke, dass mich das Konzept, die Tage strukturloser und dadurch vermeintlich stressfreier anzugehen, doch nicht gänzlich überzeugt. Zwar habe ich trotz mehrfachen Wechsels zwischen Bett und Schreibtisch heute ein paar Dinge abgearbeitet, aber wirklich zufrieden stellt mich das nicht. Die wohl naive Hoffnung, alles möge möglichst bald wieder möglichst normal sein, schwebt irgendwo im Raum umher und macht es mir schwer, klare Gedanken zu fassen. Am Ende des Tages bleiben ein Gefühl von Traurigkeit und die Sorge, dass das Hin und Her zwischen Angst und Hoffnung die Nerven früher oder später überstrapazieren wird.

Im abendlichen Austausch mit einer Freundin stellen wir ein ums andere Mal fest, dass es uns gerade ähnlich geht. Zum Abschluss verabreden wir uns wieder zu einem morgendlichen Hangout und ich bin froh, mit der Situation nicht allein zu sein.