Dienstag, 31. März 2020

Isolation, Tag 13: Von Wissenschaft und Politik

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und heute ist mein Gefühl „zu wenig“. So hatte ich mir letzte Woche zwar vorgenommen, meine Arbeitsphasen an Konzentration, Motivation und Befindlichkeiten anzupassen und relativ spontan ein- und auszuläuten, aber vollkommen losgelöst von den Arbeitsphasen anderer kann ich sie dann doch nicht gestalten. Zumindest nicht mit gutem Gewissen. So erwarten mich nach meiner vormittäglichen Laufrunde bereits E-Mails und Whatsapp-Nachrichten von KollegInnen. Ich habe das Gefühl, alle sind fleißig, mit Ausnahme von meiner Wenigkeit, und fühle mich sofort verpflichtet, zu reagieren. Kognitiv bin ich aber eigentlich noch gar nicht dazu in der Lage.

In einer Skype-Konferenz etwas später tausche ich mich mit anderen Doktorandinnen aus. Die, Überraschung, gerade alle ganz fleißig an ihren Dissertationen arbeiten. Ich ärgere mich über mein Nicht-Vorankommen, das Nicht-Nutzen der (stressfreien?) Zeit, die Unkonzentriertheit, die Unstrukturiertheit. Ich bin neidisch auf die anderen, die „täglich als allererstes etwas für die Dissertation machen“, sich feste Arbeitszeiten einplanen und diese auch einhalten, die motiviert und zuversichtlich erscheinen. Ärger und Neid, da sind sie wieder, herzlich Willkommen, was kann ich heute für euch tun? Gefühle kann man lenken, kontrollieren, unterdrücken, aber nie völlig unterbinden, denke ich mir, und heute ist es mir zu mühsam, mich gegen den Ärger über mein Nicht-Vorankommen und den Neid in Bezug auf die Vorankommenden zu stellen. Zumal mir beide Gefühle durchaus angebracht scheinen.

Über den Tag hinweg begleitet mich das dringende Gefühl, dass es viel zu wenig ist, was ich gerade mache. Genervt versuche ich mich abzulenken, spiele eine Weile „Hauptstädte der Welt“ und das „World Map Quiz“ auf dem Handy und ende mal wieder in meiner Podcast-App. Ich höre Folge 24 des NDR-Coronavirus-Update mit Dr. Drosten und bin erstaunt, dass seit der ersten Folge schon mehr als ein Monat vergangen ist. Bis zum 20. April sollen die derzeit erlassenen Beschränkungen eingehalten werden heißt es, dann sähe man weiter. Ob der Spuk in einem Monat vorbei sein wird und wir wieder „normal“ unserem Alltag nachgehen werden? Heute kann ich mir das kaum vorstellen. Zumal mich mehr und mehr das Gefühl beschleicht, dass der Spuk uns noch gar nicht recht ereilt hat.

Die Inhalte der Podcast-Folge heben meine Laune ein wenig – geht es doch in einigen Abschnitten um einige der Aspekte, über die ich in meiner gestrigen Podcast-Marathon-Zusammenfassung bereits geschrieben habe. So wird uns einerseits grob die Methode der Szenario-Analyse und andererseits, etwas ausführlicher, das Verhältnis von Politik und Wissenschaft in der aktuellen Krisensituation erklärt. Dabei wird unter anderem klar gestellt, „dass es eben nicht die Wissenschaft ist, die Entscheidungen trifft, sondern die Politik.“ (…) „[D]ie Wissenschaft hat kein demokratisches Mandat. Ein Wissenschaftler ist kein Politiker, der wurde nicht gewählt und der muss nicht zurücktreten.“ Ich muss grinsen und denke: „Meine Worte“. Auch bestätigt mir Hr. Drosten meinen gestrigen Eindruck, dass die Überzeichnung der Wissenschaftler (hier sind vor allem Virologen/Epidemiologen gemeint) in der mediengeführten öffentlichen Debatte gerade ein zunehmendes Problem darstellt.

Der Gedanke, der mich dann doch wieder an mein eigenes kleines Forschungsvorhaben erinnert, ist: „Kein Wissenschaftler will überhaupt so Dinge sagen wie: Diese politische Entscheidung, die war richtig. Oder diese politische Entscheidung, die war falsch. Oder diese politische Entscheidung, die muss jetzt als Nächstes getroffen werden.“ In meiner Dissertation möchte ich die Auswirkungen bestimmter schulstruktureller Reformmaßnahmen (und damit auch bestimmter politischer Entscheidungen) auf ethnische und soziale Segregation an Schulen untersuchen. Wie groß die Sorge politischer Entscheidungsträger sein kann, dass dabei explizit oder implizit eine der oben zitierten Aussagen gemacht wird, kann ich seit dem Durchlaufen eines langwierigen Genehmigungsverfahrens für eine meiner Untersuchungen sehr gut einschätzen.

Aktuell scheint es so, als wären Politiker stets darauf bedacht, die neuesten wissenschaftliche Erkenntnisse in ihre Entscheidungen einfließen zu lassen. Dies ist in der derzeitigen Situation zwar erfreulich und äußerst beruhigend, stellt jedoch noch lange kein allgemeingültiges Konzept bei der politischen Entscheidungsfindung dar. Aber vielleicht erleben wir nach der Krise ja einen Wandel weg von der Routine technisch rational getroffener Entscheidungen hin zu spürbar stärker diskursiven und reflexiven Formen der Wissensbasierung, die eine evidenzbasierte Politik stützen würden?* Insbesondere in Hinblick auf den Klimawandel und seine Folgen sowie mögliche Interventionen, aber auch in Hinblick auf bildungspolitische Fragen und Entscheidungen und viele andere Bereiche wäre das sicher nicht verkehrt.

Mit ein wenig neuer Motivation was die eigene Forschung betrifft, klemme ich mich am Abend also doch nochmal an die Literaturarbeit. „Wer forschen will, muss lesen.“ denke ich mir ein ums andere mal. Noch so eine Erkenntnis, die mir im NDR Podcast derzeit regelmäßig bestätigt wird. Nur wann und in welcher Geschwindigkeit Hr. Drosten die Fülle an täglich zitierten Studien liest und, wie ich mein Lesetempo an seines angleichen kann, bleibt mir bislang ein Rätsel.

* Interessanter Aufsatz zum Thema: Weiland, S. (2013). Evidenzbasierte Politik zwischen Eindeutigkeit und Reflexivität. Technikfolgen – Theorie und Praxis, 22(3), 9-15. Abrufbar unter: https://doi.org/10.14512/tatup.22.3.9

Montag, 30. März 2020

Isolation, Tag 12: Putzen und Podcasts

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und heute ist meine Antwort „Putzen und Podcasts hören“. Das Schöne daran ist, dass diese beiden Tätigkeiten uneingeschränkt miteinander vereinbar sind. Voraussetzung sind allenfalls gute Kopfhörer und/oder ein geräuscharmer Staubsauger.
Während ich also hochmotiviert meine Wohnung auf den Kopf stelle und den Frühjahrsputz einläute, höre ich in chronologischer Reihenfolge die folgenden Podcasts:

Ich beginne mit Von und zur Hören – der aktuelle und persönliche Podcast von und mit Diana zur Löwen und Felix von der Laden. Diana und Felix sprechen, Überraschung, erstmal über Corona. In ihrer jugendlichen Art verbreiten sie dabei doch einige Unwahrheiten. Und wundern sich darüber, dass jetzt plötzlich Virologen die Entscheidungen treffen und nicht die Politiker, die wir als Volk gewählt haben, um Entscheidungen zu treffen. Ich korrigiere gedanklich: Wissenschaftspolitische Beratungsgremien gibt es in vielen Bereichen, allen voran der Wissenschaftsrat von Bund und Ländern, der bereits 1957 gegründet wurde. Wissenschaftler fungieren aber immer nur als Berater, die Entscheidungen obliegen nach wie vor den PolitikerInnen, die wir gewählt haben. Neu ist aus meiner Sicht die aktuell ungewohnt hohe Präsenz von WissenschaftlerInnen in den Massenmedien, die den Gedanken nahelegt, diese wären die neuen Entscheidungsträger.

Als nächstes höre ich Fiete Gastro – der auch kulinarische Podcast mit Tim Mälzer und Sebastian Merget. Eine Corona-Sonderfolge, zu Gast ist der erste Bürgermeister von Hamburg Peter Tschentscher. Dieser ist übrigens selbst Mediziner mit den Fachgebieten Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin und arbeitete vor seiner Berufung als Senator drei Jahre als Oberarzt am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Um medizinische Fragen geht es im Podcast aber gar nicht (ich habe die Information im Nachhinein bei Wikipedia recherchiert). Der Podcast widmet sich vielmehr der Frage, was die Corona-Krise für Gastronomie und Gastronomen bedeutet. Es geht um große und kleine Pläne, volle Kühlschränke und leere Lagerhäuser, aktuelle Initiativen, Ideen, Solidarität unter Gastronomen und Kunden, aber auch um zukunftsweisende Fragen nach der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Gastronomie und der Wertschätzung, die wir ihr, nicht zuletzt finanziell, entgegenbringen.

Der dritte Podcast für heute ist SWR2 Wissen – eine Folge zum Thema „Kinder im Corona-Arrest. Lernen und spielen während der Pandemie“. In diesem Podcast geht es um eine Frage, die ich bislang im öffentlichen Diskurs vermisse. Inwiefern bringen die Schließungen von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen zusätzliche Nachteile für Kinder aus schwierigen sozialen Lagen mit sich? Zu Wort kommen unter anderem zwei renommierte Bildungsforscher: Ulrich Trautwein, mein ehemaliger Chef am Hector-Institut für empirische Bildungsforschung in Tübingen sowie Kai Maaz, Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung. Bildungsexperten warnen davor, dass länger andauernde Schulschließungen die ohnehin sehr große soziale Ungleichheit an Bildungschancen in Deutschland noch verschärfen wird. Sie schätzen, dass zur Zeit mindestens 100.000 Schülerinnen und Schüler deutschlandweit komplett vom Unterricht abgeschnitten sind, da sie keine ausreichende Unterstützung der Eltern und/oder keinen ausreichenden Zugang zu technischen Geräten, Lernmaterialien und -plattformen haben. Ihre Leistungsentwicklung könnte in den kommenden Wochen folglich mehr oder weniger stagnieren. Ein Gedanke, der mich selbst in den vergangenen Tagen bereits mehrfach beschäftigte. Helfen könnte der direkte Kontakt von Lehrkräften zu den betroffenen Familien, die Geräte-unabhängige (d. h. z. B. auch über Smartphones realisierbare) Zugänglichkeit zu Lehrmaterial, aber auch spontane Maßnahmen aus der Privatwirtschaft (wie z. B. freier Datenzugang von Mobilfunkanbietern)

Und zuletzt höre ich noch Geil Montag – ein Podcast von und mit Paul Berg und Lasse Kroll, zwei Jungunternehmern, die davon träumen, die Arbeitswelt hin zu mehr Nachhaltigkeit, Selbstbestimmung und Sinnhaftigkeit zu verändern. In einer Corona-Sonderfolge sprechen die beiden mit dem Wirtschaftswissenschaftler Dr. Stephan A. Jansen, der sich der soziologischen Systemtheorie, der Organisations- und Netzwerktheorie und der Kapitalmarkttheorie verschrieben hat. Jansen fordert, die Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht mehr nur überwiegend aus epidemiologischer Perspektive, sondern vermehrt auch aus ökonomischer, ethisch-moralischer und vor allem soziologischer Perspektive zu diskutieren. (Ich hatte in den vergangenen Tagen das Gefühl, dass sich diese Tendenz bereits deutlich abzeichnet.) Die Fragen und Gedanken der Diskutanten sind hochinteressant, ihre Meinungen teile ich aber nur teilweise. So heißt es beispielsweise „Wissenschaft kann nie objektive Wahrheit sein. Wissenschaft ist ein Kommunikationsangebot, etwas anders zu sehen, als man es selber geglaubt hätte oder von den Medien suggeriert bekommt.“ Mein Verständnis von Wissenschaft ist ein etwas anderes. Auch die Forderung, wir müssen „die Normalität der Katastrophe viel intensiver üben“, wie es beispielsweise in Japan in Hinblick auf Erdbeben praktiziert wird, kommt mir etwas seltsam vor. Und die Kritik einer mangelnden Generationengerechtigkeit aktueller politischer Entscheidungen (aka „die Alten werden geschützt und die Jungen tragen die Kosten“) sowie das Fazit, die Wurzel allen Übels sei die Überalterung der Gesellschaft (man blicke nur nach Italien, wo das europäische „Demografie-Problem“ bei der Virus-Ausbreitung am offensichtlichsten sei), und es stünde uns „ein gewaltiger Konflikt zwischen den Generationen“ bevor, würde ich nicht ohne weiteres unterschreiben. Dennoch spricht mich die Herangehensweise an die Frage nach Auswirkungen der Pandemie an: Die methodische Verbindung von soziologischer Gegenwartsdiagnostik und Zukunftsforschung habe ich in einem Uni-Seminar im vergangenen Semester selbst kennen gelernt und fand sie damals bereits hochspannend. Die sich daraus ergebenden Fragen nach „Lösungsproblemen“, d. h. nach Problemen, die in Zukunft aus den gegenwärtig gewählten Lösung entstehen werden, sind immer nur unter Unsicherheit zu beantworten. Eine wissenschaftliche Sichtweise kann diese Unsicherheit aber durchaus nennenswert reduzieren. In einem aktuellen Gutachten der Wirtschaftsweisen werden beispielsweise drei denkbare Szenarien zugrunde gelegt, die sich darin unterscheiden, wie lange und in welchem Ausmaß die einschränkenden Maßnahmen anhalten und wie schnell es zu einer Erholung der Wirtschaft kommen wird.* Basierend auf entsprechenden Annahmen kann dann prognostiziert werden, wie sich die Wirtschaft in diesem und nächsten Jahr entwickeln wird. Der Podcast erklärt, dass solche Prognosen momentan dahingehend eine Herausforderung darstellen, dass der gleichzeitige Stopp von Angebot und Nachfrage eine nie dagewesene Situation fernab der gängigen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten sei.

Am Ende des Tages bescheinigt mir die App heute mehr als 6 Stunden Podcast gehört zu haben. Die Wohnung ist so sauber wie schon lange nicht mehr, ich habe sogar endlich mal hinter dem Bett gesaugt und alle Schubladen und Schränke ausgewischt. Zufrieden lasse ich den Tag mit einem Spaziergang, einem Telefonat mit den Eltern, einem leckeren Abendessen und einer Runde häkeln auf dem Sofa ausklingen und bin gespannt, was die kommende Woche bringen wird.

* Im o. g. Uni-Seminar haben wir uns ebenfalls einer solchen Szenario-Analyse angenähert. Die Frage war hierbei: Wie werden sich Bildungslandschaften in Deutschland in den nächsten 30 Jahren entwickeln? Die Ergebnisse haben wir in Form einer Website aufbereitet, die nach wie vor unter https://ronjakumpe.wixsite.com/bildungslandschaften/faq zu erreichen ist.

Sonntag, 29. März 2020

Isolation, Tag 11: Sorge vor Sorglosigkeit

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und heute antworte ich „Rennradfahren“.

Erst letzte Woche habe ich die Rennradsaison 2020 eingeläutet, ganz schön spät in diesem Jahr. Heute bange ich darum, dass sie bald eine jähe Unterbrechung erfahren könnte. Wie wahrscheinlich sind strengere Anti-Virus-Maßnahmen, bis hin zu einer Ausgangssperre, wie sie in anderen europäischen Ländern umgesetzt wurde? Ich kann es nicht einschätzen. Viele halten sich an die Vorgaben, viele missachten sie aber auch. So mein subjektiver Eindruck aus der Fahrradperspektive, Medienberichte werden ihn mir am Abend bestätigen (dennoch wird die Umsetzung der Maßnahmen seitens der Bevölkerung durch die Medien tendenziell positiv bewertet).

Ich fahre eine große Runde über Wannsee, Potsdam, Neu-Fahrland, Sacrow, Kladow, Gatow und Spandau, insgesamt 60 km. Ich genieße die frische warme Frühlingsluft, andere tun es mir gleich. „Sind wir zu unvorsichtig?“ frage ich mich und verwende dabei bewusst das Wort „wir“, denn ich selber bin ja auch noch täglich draußen unterwegs. Für mich nichts neues, die sportliche Betätigung ist seit langem fester Bestandteil meiner Tagesabläufe. Was mich wundert ist, wie viele andere Menschen unterwegs sind. Deutlich mehr als „früher“, so scheint es mir.

Spaziergänger, Jogger, Radfahrer – auch auf sonst eher oder sogar sehr verlassenen Abschnitten der Strecke begegnet mir gefühlt einer nach dem anderen. Ich merke, dass ich Groll gegen sie hege. „Was wollt ihr alle hier?“ frage ich mich. „Ihr seid doch sonst auch nicht hier unterwegs. Müsst ihr gerade jetzt eure Liebe zur Bewegung entdecken, jetzt, wo es doch eigentlich so sinnvoll wäre, weitestgehend zuhause zu bleiben?“ Bei nicht wenigen wirkt es tatsächlich so, als säßen sie seit Jahren zum ersten Mal wieder auf einem Fahrrad.

Ich habe schon verstanden, dass Bewegung an der frischen Luft grundsätzlich nicht das Problem darstellt. Es geht im Rahmen der Kontaktsperre darum, das Zusammentreffen von Menschen zu vermeiden, die im häuslichen Umfeld nicht zusammentreffen würden. Je mehr Menschen draußen unterwegs sind, desto schwieriger wird das natürlich. Bei weniger breiten Wegen ist schon das Einhalten des 1,5 m-Mindestabstands eine Herausforderung. Und nicht wenige scheinen die Notwendigkeit nicht zu erkennen, mir beim Entgegenkommen oder Überholenlassen ein bisschen Platz zu machen. Besonders aber ärgere ich mich über größere Gruppen, die auf den ersten Blick eher weniger nach Familie bzw. „Haushaltsgemeinschaft“ aussehen und untereinander natürlich keinen Abstand halten. Und über diejenigen (Gruppen), die sich den Vorgaben wiedersetzen, sich länger an einem Ort aufzuhalten. Kein längeres Verweilen auf Wiesen, Plätzen und Bänken, kein Picknick, kein Grillen, … das ist doch eigentlich nicht schwer zu begreifen.
Ich mochte es noch nie, wenn Menschen sich nicht an Regeln halten, aber heute ärgert es mich besonders. Und plötzlich beginne ich, mich über mich selbst zu ärgern. Ich ärgere mich über mein Urteilen bzw. Verurteilen der anderen. Über den Gedanken, sie sollten nicht hier sein. Über den Gedanken eines Platzrechts auf dieser Straße für Radfahrer, die bereits vor Ausbruch der Corona-Epidemie auf dieser Straße gefahren sind.

Und während ich mich so über meinen Ärger ärgere, beginne ich zu hinterfragen, was dahintersteckt. Und recht schnell wird mir bewusst, dass Sorge und Neid hinter meinem Ärger stehen. Sorge, dass zu viele von uns die Kontaktsperre auf die leichte Schulter nehmen und die Maßnahme sich dadurch als weniger wirksam erweisen wird, als wir es uns erhoffen. Aber auch Neid, dass ich die Kontaktsperre nicht wie andere auf die leichte Schulter nehmen und mich guten Gewissens mit Freunden treffen oder meine Familie besuchen kann.

Mit dieser Erkenntnis verzogen sich Groll und Ärger und selbstkritische Gedanken stellten sich ein. Es ist nicht meine Aufgabe, zu urteilen über Recht und Unrecht, zu kritisieren, zu entscheiden über das, was andere zu tun und zu lassen haben. Diejenigen, die sich schon jetzt nicht an die Regeln halten, werden es umso weniger tun, je mehr man ihnen den erhobenen Zeigefinger vors Gesicht hält. So hilft mein Ärger also weder mir, noch anderen. Statt mich zu ärgern, möchte ich in den nächsten Tagen umsichtig sein. Die Bedürfnisse und das Verhalten anderer respektieren und mich auf meine eigenen Bedürfnisse und mein eigenes Verhalten fokussieren. Die Sorge ein wenig sorgloser zu betrachten und darauf zu vertrauen, dass diejenigen, die die Regeln aufstellen und ihre Einhaltung kontrollieren, verantwortungsbewusst handeln und die Lage ausreichend kritisch einschätzen.

Samstag, 28. März 2020

Isolation, Tag 10: Besprechungen

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und berichten in Podcasts, Blogartikeln, Youtube-Vlogs, Instagram-Stories, … Und in vielen Berichten geht es um die „neue“ Art zu arbeiten. Mit welchen Programmen lassen sich Lehrvideos aufnehmen, welche Programme eignen sich am besten für Video-Konferenzen mit zwei, drei, vier oder ganz vielen Personen, wann ist es empfehlenswerter, einfach zu telefonieren, wie greift man Remote auf die Büro-Rechner zu und zu welcher Tageszeit ist der VPN-Tunnel eigentlich mal nicht überlastet? (5 Uhr nachts klappt‘s wunderbar – ich habe getestet.)

Einiges an dieser neuen Arbeitsweise kommt mir entgegen. Ich mag keine Besprechungen. Das ist jetzt natürlich viel zu allgemein ausgedrückt. Es gibt nicht selten auch Besprechungen, in die ich gerne gehe und/oder aus denen ich mit einem guten Gefühl herausgehe. Aber in den meisten Fällen ist das nicht der Fall. Oft ist der Grund dafür, dass ich keinen Sinn darin sehe, über die vermeintlich zu besprechenden Dinge zu sprechen. Das wiederum kann darauf zurückgehen, dass ich keine Notwendigkeit darin sehe, über die aus Sicht anderer zu besprechenden Dinge zu sprechen. Es kann aber auch daran liegen, dass ich aufgrund der Erfahrung diverser ergebnisloser Besprechungen (besser bekannt als „Reden um den heißen Brei“) oftmals nicht davon ausgehe, dass eine anberaumte Besprechung zielführend sein wird. Ein dritter möglicher Grund liegt darin, dass es mir oft einfach zu lange dauert, mir verschiedene Meinungen zu verschiedenen Themen anzuhören, von denen ein nennenswerter Teil gefühlt nur geäußert wird, weil die sich äußernden Personen das Bedürfnis haben oder sich verpflichtet fühlen, sich zu äußern – ungeachtet des inhaltlichen Gehalts ihrer Äußerungen (das berühmte „Senf dazugeben“).

Der vierte und letzte Grund betrifft nur Besprechungen, die sich explizit um meine eigenen Forschungsarbeiten und meine Manuskripte drehen. Ich finde es mühsam, meine eigenen Gedanken zu erklären und es fällt mir schwer, sie den Urteilen anderer auszusetzen. Ich habe gelernt, dass diese Besprechungen richtig und wichtig sind. Dass Wissenschaft von Kooperation und Kollaboration lebt. Dass Kommunikation und Konfrontation mich voran bringen können und Kritik konstruktiv sein kann. Ich weiß, dass ich Fehler mache, auf die andere aufmerksam werden. Und dass jede/r Beteiligte immer auch eine neue Sicht auf die Dinge mit einbringt.

Dennoch, da bin ich ganz ehrlich, finde ich diese Besprechungen unglaublich mühsam. Ich bin immer kritisch mit dem, was ich tue, aber diese kritische Haltung kann Rahmen einer Besprechung schnell in ein Gefühl vollkommender Unvollkommenheit und Unzufriedenheit kippen. Frustration stellt sich insbesondere dann ein, wenn mir vermittelt wird, mein Werk sei (noch) nicht gut, mir aber nicht vermittelt werden kann, warum. Geschweige denn, wie ich das ändern kann.

In einem Podcast-Interview* erklärte Sabine Rückert, Mitglied der Chefredaktion der Wochenzeitung Die Zeit, was aus ihrer Sicht einen guten Redigier-Prozess ausmacht und, was dabei nicht zielführend ist. Ein großes Problem besteht aus ihrer Sicht, wenn „er [der Autor] das Gefühl hat, jetzt macht sich einer auf meine Kosten wichtig. (…) dass hier sinnlose Maßnahmen, an seinem Text erfolgen.“ Ist das der Fall, so Rückert, „dann hast du den Autor verloren.“ Denn: „Das ist eine besonders blöde Art, mit Autoren umzugehen.“ Leider habe ich eine solche Form des Redigierens im Laufe der letzten Jahre zur Genüge erlebt. Und das übliche „Lass uns nochmal drüber sprechen.“ war dabei nur selten hilfreich.

Heute stand mal wieder eine Besprechung über meine Forschungsarbeit bzw. ein zugehöriges Manuskript an – in Zeiten der Isolation wurde diese natürlich als Video-Konferenz abgehalten. Und nach den ersten Erfahrungen mit Video-Konferenzen muss ich gestehen, dass meine Besprechungsaversion dabei tatsächlich gesunken ist. Video-Konferenzen scheinen mir bis dato effizienter als die konventionelle Form der physischen Zusammenkunft. Man spart sich das übliche Geplänkel, man redet weniger „um den heißen Brei“, man vermeidet es, nur mal eben „seinen Senf dazuzugeben“, man lässt sich ausreden und beschränkt sich auf das Nötigste. Diese Erfahrung ist sicher nicht verallgemeinerbar, aber meine ersten Video-Konferenzen, inklusive der gestrigen, liefen erstaunlich gut. Wir kamen schnell auf den Punkt, jeder brachte gute Gedanken ein und anders als üblich, konnte die Besprechung ein vorheriges Gefühl der Frustration aufgrund von eigener Unzufriedenheit mit der eigenen Arbeit in Motivation und Zuversicht verwandeln. Mit einer klaren und realistischen Zielvereinbarung haben wir uns für eine nächste Besprechung Ende nächster Woche verabredet. Erstaunt über mich selber, notiere ich mir heute: Ich freue mich darauf und glaube, dass sie mir helfen wird, voranzukommen.

* https://mitvergnuegen.com/hotelmatze/sabine-rueckert/

Freitag, 27. März 2020

Isolation, Tag 9: Gärtner-Freude

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und berichten in Podcasts, Blogartikeln, Youtube-Vlogs, Instagram-Stories, … Eine angenehme Form des Austausches in der Isolation. In meiner Familie und meinem Freundes- und Bekanntenkreis arbeiten die meisten im Homeoffice – trotzdem bleibt vielen durch den Wegfall von nicht mit der Kontaktsperre zu vereinbarenden Freizeitaktivitäten, Besprechungen, Kongressen, Reisen, oder auch einfach dem täglichen Weg zur Arbeit plötzlich ein gewisses Mehr an freier Zeit, die es zu füllen gibt. Und es ist gar nicht so einfach, dabei keine Leere entstehen zu lassen, die zu viel Raum für trübe Gedanken bietet.

Für Menschen mit psychischen Problemen, denen menschliche Nähe und feste Strukturen im Alltag Halt geben, kann das Zuhausebleiben gerade eine ziemliche Herausforderung darstellen. Eine liebe Freundin hat über Instagram nach Ideen gefragt, wie wir uns beschäftigen. Dabei sind einige schöne Gedanken zusammengekommen. Meine Antwort (und das tat ich schon vor der Isolation gerne): „Pflanzen beim Wachsen zusehen“.

Ich habe wahrlich keinen grünen Daumen und muss gestehen, dass ich auch schon einigen sich in meiner Obhut befindlichen Pflanzen beim Eingehen zugesehen habe. Andere jedoch – die robusten und pflegeleichten unter ihnen – beobachte ich in ihrer Entfaltung ganz genau. Und da ich gerade so viel Zeit habe und so wenig unterwegs bin, nehme ich mir fast mehrmals täglich einen Moment, um den Wachstumsstand der Pflanzen zu registrieren und mich an ihren Veränderungen zu erfreuen.


Die Monstera hat in der letzten Woche nach einer langen Schaffenspause ein fünftes Blatt entfaltet. Zwei Tage brauchte es, um sich aufzurollen, jetzt wird es Tag für Tag ein bisschen dunkler und wird sich farblich sicher bald ganz an die bisherigen vier Blätter angepasst haben.

Die Agave besteht aus zwei Trieben, die an der Wurzel zusammenhängen. Das „Kindl“, im Fachjargon Tochterrosette bzw. Brutknöllchen genannt, hätte ich direkt nach dem Austrieb von der Mutterpflanze trennen müssen. Wusste ich damals leider noch nicht. So wachsen Mutter und Tochter nun dicht an dicht – Reibung ist dabei vorprogrammiert. In letzter Zeit reibt’s sogar ziemlich, das Kindl überragt die Mutter in der Größe, die Mutter beginnt aber die Ellenbogen auszufahren und drückt die Tochterpflanze zur Seite. Ich fürchte, ich muss die Nabelschnur bald doch noch trennen und die beiden mit etwas Abstand oder gleich in zwei Töpfe setzen. Hoffentlich werden sie die späte Trennung gut überstehen.

Die Yuccapalme hatte ich im Herbst letzten Jahres schon fast aufgegeben. Um ein besonders schönes Exemplar handelte es sich von vornherein nicht, aber dem geschenkten Gaul … na ihr wisst schon. In meiner Obhut wurde das Blattwerk dann immer welker und spärlicher. Da ich mich nicht besonders daran störte und im Rahmen des Beobachtens ihres Untergangs mit Interesse auch gewisse sadistische Züge an mir beobachtete, ließ ich sie einfach in der Ecke stehen. Ihre Rettung kam in Gestalt meiner Nachbarin, die sich während einer längeren Abwesenheit meinerseits dazu entschloss, der Palme einen neuen Platz in der Wohnung zu suchen. Diese reagierte unverzüglich dankbar und treibt seitdem wieder gesunde ledrige Blätter aus. Was ein einfacher Wechsel der Perspektive so ausmachen kann! Ganz neu entdeckt habe ich heute die Art des Blattwachstums bei der Yuccapalme. Es wächst hier nämlich erst eine sehr feste, kompakte „Spitze“ die sich dann von oben herab „schält“ und so einzelne Blätter bildet. Ich bin gespannt, wann die aktuelle Spitze erkennbar ein neues Blatt ausgebildet hat.

Am größten ist der Spannungsbogen der Pflanzenbeobachtung aktuell aber beim Blick in meinen provisorischen Selbstversorger-Anzuchtkasten. Aus dem Saatgut-Kalender von einer lieben Freundin habe ich den Januar-Salat, die Februar-Radieschen und die März-Zitronenmelisse ausgesät. Und nach anfänglichem Bangen („Da kommt doch eh nichts.“) konnte ich vorgestern tatsächlich die ersten Salat-Pflänzchen an der Luft willkommen heißen. Erst zwei, dann drei, und dann waren es plötzlich 16 die morgen oder übermorgen dringend „vereinzelt“ werden müssen, da sie teilweise schon an die provisorische Abdeckung des provisorischen Anzuchtkastens stoßen. Heute trieb außerdem das erste Radieschen-Pflänzchen aus, die Spannung, wie viele es morgen sein werden, ist kaum noch auszuhalten.


Ihr seht, die Pflanzen – diese kleinen und großen Wunder der Natur – in ihrem Wachstum genau zu beobachten, bereitet mir momentan eine tiefgründige Freude. Es hilft mir aber auch, den Fokus für einen Moment weg von Sorgen, Ängsten und sonstigen Befindlichkeiten zu lenken und zur Ruhe zu kommen. Und nicht zuletzt natürlich, die Zeit totzuschlagen. Womit wir wieder beim Thema dieses Tagebuchs wären: „Und was macht ihr so?“

Donnerstag, 26. März 2020

Isolation, Tag 8: Neue Ecken entdecken

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Ein wichtiger Teil meiner Tagesabläufe ist der Gang an die frische Luft. Das galt zwar schon vor der Corona-Isolation, war aber in den meisten Fällen mit alltäglichen Pflichten (Arbeit, Einkaufen) oder Freizeitaktivitäten (Unternehmungen, Freunde treffen) verbunden.

Seit einer Woche ist es anders: Ich gehe nicht mehr raus, um zur Arbeit oder zur Uni zu fahren. Ich gehe nicht mehr raus, um Freunde zu treffen. Ich gehe nicht mehr raus, um Veranstaltungen zu besuchen, einen Kinofilm anzusehen, einen Kaffee zu trinken. Ich gehe raus, um rauszugehen.*


Die vergangenen Tage schnürte ich die Laufschuhe und begab mich auf eine meiner üblichen Laufstrecken: durch den Park, um den See, durch den Wald. Nach einer Woche wünschten sich meine Gelenke eine Laufpause und mein Gemüt etwas Abwechslung. So entschied ich mich heute a) das Risiko einzugehen, in eine etwas belebtere Gegend zu spazieren und b) neue Ecken zu entdecken und mich grob der richtigen Richtung folgend durch ungewohnte Straßen treiben zu lassen. Ich zog mir eine Hose an (seit einer Woche trage ich vorwiegend Jogginghose), band mir ein Bandana um den Kopf, komplettierte mein Outfit mit Halstuch und Windbreaker und fühlte mich, trotz farblich eingeschränkter Passung, so ordentlich angezogen, wie schon lange nicht mehr.

Auf dem Weg hörte ich einen Podcast, der bereits vor Beginn der Corona-Ausbreitung in Deutschland aufgenommen wurde. Eine gute Möglichkeit, die Gedanken eine Stunde auf ein anderes Thema zu lenken und abzuschalten. Ein Hauch von Normalität begleitete meinen Spaziergang. Passend zu meinem Vorhaben, neue Ecken zu entdecken, legte mir der Podcast das Erkennen und Pflegen der eigenen Ecken und Kanten nahe.


Ein Kampf, den ich die letzten Tage gegen mich führte, war geprägt von der Vorstellung, ich müsse „früh“ aufstehen und arbeiten, so wie andere es tun – einschließlich mir, wenn ich ins Büro oder in die Uni fahre. Ich merkte schnell, dass ich dabei nicht „funktionierte“. Ich trödelte herum, war müde und unausgeglichen, konnte mich nicht länger als ein paar Minuten am Stück konzentrieren und brachte trotz größter Bemühungen keine Struktur in meinen Tag. Ich fühlte mich unzulänglich und die allgemeine Schwierigkeit mit der Arbeit im Homeoffice tat ihr Übriges – darüber habe ich gestern bereits berichtet.

Während es im Podcast also weiter darum ging, sein wahres Ich zu erkennen, sein Anderssein zu schätzen, den Mut zu haben, unangepasst zu leben**, entschied ich, mich vom Druck des frühen Aufstehens zu befreien und meine Vormittage im Bett zu genießen. Das, was andere abends machen, mache ich fortan einfach morgens: Lesen, eine Doku schauen, mein Tagebuch schreiben … Und das, womit andere morgens beginnen, beginnt bei mir ab jetzt frühestens am frühen Nachmittag: in den Abend und die Nacht hinein zu arbeiten, hat die letzten zwei Tage deutlich besser funktioniert als der Versuch, feste Arbeitszeiten am Vormittag zu etablieren.

So wird mein Tag die nächsten Tage wohl ohne Wecker und mit viel Gemütlichkeit beginnen, das morgendliche Hangout mit einer Freundin lässt sich vielleicht auch eine Stunde nach hinten verschieben. Sobald mir danach ist, werde ich aufstehen und nach draußen gehen. Um es nicht ausarten und die Stimmung im Bett kippen zu lassen, setze ich mir hierfür eine Frist zu 13 Uhr. Die Arbeit beginne ich dann um 15, 16 oder 17 Uhr. Auf eine feste Zeit kann ich mich gerade nicht festlegen, aber vielleicht muss das ja auch gar nicht sein. Natürlich habe ich gewisse Dinge zu erledigen, aber im Wesentlichen habe ich doch gerade die Freiheit zu arbeiten, wenn ich die Motivation und Konzentration dafür aufbringen kann.

Um den Überblick zu behalten, notiere ich mir was zu tun ist. Die wichtigen Dinge erledige ich fristgerecht, alles andere dann nach Lust und Laune. Ich heiße den Schlendrian willkommen und bin gespannt, wie sich das auf meinen Tagesrhythmus und meine Produktivität auswirkt. Ich werde berichten.

* Und um einzukaufen, aber das natürlich – den Empfehlungen entsprechend – so selten wie möglich.
** Unangepasst ist auch der Titel des Podcasts: https://mitvergnuegen.com/2020/unangepasst-der-podcast-uebers-unorthodox-sein/

Dienstag, 24. März 2020

Isolation, Tag 7: (Un-) Produktiv im Homeoffice

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und manchmal antworte ich „arbeiten“, schließlich bin ich doch im Homeoffice und angehalten, durch die Schulschließungen „frei werdende Arbeitskapazitäten sinnvoll zu nutzen“. Und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Institut für empirische Bildungsforschung habe ich doch auch beste Bedingungen für die Heimarbeit. Alles was ich brauche ist ein Rechner, eine möglichst stabile Internetverbindung und möglichst uneingeschränkten Zugang zu Literatur. (Okay, vielleicht nicht beste, aber zumindest gute Bedingungen sind gegeben.) Und wahrscheinlich habe ich gerade so viel Zeit für meine Dissertation, wie nie zuvor und danach nie mehr.

Trotzdem fällt es mir schwer, einen Zugang zu dieser neuen Art zu arbeiten zu finden. Der Grund ist einfach: Ich arbeite nicht gerne zuhause. Ich brauche eine räumliche Trennung und ein reizarmes Umfeld. Ich lebe zwar recht minimalistisch, aber dennoch birgt meine 1-Zimmer-Wohnung jede Menge Ablenkungspotential. Und ich brauche Menschen um mich herum, die auch arbeiten. Kontakt brauche ich nicht – im Gegenteil. Besprechungen und Teamarbeit, gegenseitiges Abstimmen und Zuarbeiten sind für mich oft mühsam. Ich weiß um die Vorteile von Zusammenarbeit, aber im Kleinschrittigen arbeite ich wesentlich lieber selbstständig in meinem eigenen Verantwortungsbereich. Ich arbeite nur nicht gerne alleine. Ich brauche das Gefühl, dass andere im selben Boot sitzen und das stellt sich bei mir am besten ein durch gemeinsames Sitzen im Büro oder der Bibliothek. Die Whatsapp-Gruppe mit Homeoffice-LeidensgenossInnen hilft, aber 1:1 kann sie mir ein oder mehrere physische Gegenüber nicht ersetzen.

Ein anderes Thema, das mich in den letzten Tagen mal wieder verstärkt umtreibt, ist die Sinnhaftigkeit meiner Arbeit. Ich war nie auf die Erziehungswissenschaft festgelegt, habe nach dem Abi mit Bioinformatik begonnen und dann Mathematik und Wirtschaftsmathematik studiert. Bioinformatik ist bis heute ein Fachgebiet, das mich brennend interessiert und in stillen Momenten denke ich mir derzeit „Du könntest jetzt auch bei Herr Drosten im Labor stehen und Viren-Genome sequenzieren.“

Aber die Schulschließungen und der öffentliche Diskurs um Homeschooling, digitale Lehre, etc. tragen zunehmend auch dazu bei, dass ich der Bildungsforschung gewisse gesellschaftliche Bedeutung nicht aberkennen kann. Wie sagte Herr Drosten gestern in seinem Podcast? „Deswegen glaube ich, dass wir so schnell nicht mehr volle Fußballstadien haben werden. Aber dass wir uns relativ bald darauf konzentrieren müssen, Daten zu kriegen, um zu entscheiden, ob man vielleicht die ganze Schule oder auch nur einige Jahrgänge der Schule wieder zulassen kann. Denn das ist ja wirklich wichtig. Es ging mir um diese Unterscheidung, was ist hier eigentlich Spaßfaktor und was ist essenziell wichtig in der Gesellschaft? Worauf kann man sich jetzt fokussieren, wenn man wieder aus diesen Kontaktmaßnahmen raus will?“ Und Konstantin Wecker in seinem Livestream-Konzert am Sonntagabend konstatierte schlicht: „Die Welt reformieren heißt, die Erziehung reformieren.“*

So versuche ich in dieser seltsamen Situation meinen Beitrag zu leisten, indem ich zuhause bleibe, mich mit meinem Homeoffice anfreunde und mich auf meine Forschung konzentriere. Schulische Isolation ist jetzt ein Problem – schulische Segregation (mein Dissertationsthema) wird es im Anschluss wieder sein. Hoffentlich ganz bald. Und hoffentlich überstehen ganz viele Akteure im Bildungssystem die Krise gut und mit neuer Motivation und Ideen für innovative Lehrmethoden, die Kinder fördern und fordern und zu selbstständigen, mündigen, selbstbewussten Bürgern erziehen, die ihrerseits verantwortungsbewusst einen wertvollen Beitrag zu unserem gesellschaftlichen Leben beitragen werden.

* Dieses Zitat stammt gar nicht von Wecker selbst. „Die Welt reformieren heißt, die Erziehung reformieren.“ war das Credo des polnischen Arztes, Pädagogen und Schriftstellers Janusz Korczak, der 1878 in Warschau geboren ist und 1942 im deutschen Vernichtungslager Treblinka vergast wurde.