Dienstag, 31. März 2020

Isolation, Tag 13: Von Wissenschaft und Politik

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und heute ist mein Gefühl „zu wenig“. So hatte ich mir letzte Woche zwar vorgenommen, meine Arbeitsphasen an Konzentration, Motivation und Befindlichkeiten anzupassen und relativ spontan ein- und auszuläuten, aber vollkommen losgelöst von den Arbeitsphasen anderer kann ich sie dann doch nicht gestalten. Zumindest nicht mit gutem Gewissen. So erwarten mich nach meiner vormittäglichen Laufrunde bereits E-Mails und Whatsapp-Nachrichten von KollegInnen. Ich habe das Gefühl, alle sind fleißig, mit Ausnahme von meiner Wenigkeit, und fühle mich sofort verpflichtet, zu reagieren. Kognitiv bin ich aber eigentlich noch gar nicht dazu in der Lage.

In einer Skype-Konferenz etwas später tausche ich mich mit anderen Doktorandinnen aus. Die, Überraschung, gerade alle ganz fleißig an ihren Dissertationen arbeiten. Ich ärgere mich über mein Nicht-Vorankommen, das Nicht-Nutzen der (stressfreien?) Zeit, die Unkonzentriertheit, die Unstrukturiertheit. Ich bin neidisch auf die anderen, die „täglich als allererstes etwas für die Dissertation machen“, sich feste Arbeitszeiten einplanen und diese auch einhalten, die motiviert und zuversichtlich erscheinen. Ärger und Neid, da sind sie wieder, herzlich Willkommen, was kann ich heute für euch tun? Gefühle kann man lenken, kontrollieren, unterdrücken, aber nie völlig unterbinden, denke ich mir, und heute ist es mir zu mühsam, mich gegen den Ärger über mein Nicht-Vorankommen und den Neid in Bezug auf die Vorankommenden zu stellen. Zumal mir beide Gefühle durchaus angebracht scheinen.

Über den Tag hinweg begleitet mich das dringende Gefühl, dass es viel zu wenig ist, was ich gerade mache. Genervt versuche ich mich abzulenken, spiele eine Weile „Hauptstädte der Welt“ und das „World Map Quiz“ auf dem Handy und ende mal wieder in meiner Podcast-App. Ich höre Folge 24 des NDR-Coronavirus-Update mit Dr. Drosten und bin erstaunt, dass seit der ersten Folge schon mehr als ein Monat vergangen ist. Bis zum 20. April sollen die derzeit erlassenen Beschränkungen eingehalten werden heißt es, dann sähe man weiter. Ob der Spuk in einem Monat vorbei sein wird und wir wieder „normal“ unserem Alltag nachgehen werden? Heute kann ich mir das kaum vorstellen. Zumal mich mehr und mehr das Gefühl beschleicht, dass der Spuk uns noch gar nicht recht ereilt hat.

Die Inhalte der Podcast-Folge heben meine Laune ein wenig – geht es doch in einigen Abschnitten um einige der Aspekte, über die ich in meiner gestrigen Podcast-Marathon-Zusammenfassung bereits geschrieben habe. So wird uns einerseits grob die Methode der Szenario-Analyse und andererseits, etwas ausführlicher, das Verhältnis von Politik und Wissenschaft in der aktuellen Krisensituation erklärt. Dabei wird unter anderem klar gestellt, „dass es eben nicht die Wissenschaft ist, die Entscheidungen trifft, sondern die Politik.“ (…) „[D]ie Wissenschaft hat kein demokratisches Mandat. Ein Wissenschaftler ist kein Politiker, der wurde nicht gewählt und der muss nicht zurücktreten.“ Ich muss grinsen und denke: „Meine Worte“. Auch bestätigt mir Hr. Drosten meinen gestrigen Eindruck, dass die Überzeichnung der Wissenschaftler (hier sind vor allem Virologen/Epidemiologen gemeint) in der mediengeführten öffentlichen Debatte gerade ein zunehmendes Problem darstellt.

Der Gedanke, der mich dann doch wieder an mein eigenes kleines Forschungsvorhaben erinnert, ist: „Kein Wissenschaftler will überhaupt so Dinge sagen wie: Diese politische Entscheidung, die war richtig. Oder diese politische Entscheidung, die war falsch. Oder diese politische Entscheidung, die muss jetzt als Nächstes getroffen werden.“ In meiner Dissertation möchte ich die Auswirkungen bestimmter schulstruktureller Reformmaßnahmen (und damit auch bestimmter politischer Entscheidungen) auf ethnische und soziale Segregation an Schulen untersuchen. Wie groß die Sorge politischer Entscheidungsträger sein kann, dass dabei explizit oder implizit eine der oben zitierten Aussagen gemacht wird, kann ich seit dem Durchlaufen eines langwierigen Genehmigungsverfahrens für eine meiner Untersuchungen sehr gut einschätzen.

Aktuell scheint es so, als wären Politiker stets darauf bedacht, die neuesten wissenschaftliche Erkenntnisse in ihre Entscheidungen einfließen zu lassen. Dies ist in der derzeitigen Situation zwar erfreulich und äußerst beruhigend, stellt jedoch noch lange kein allgemeingültiges Konzept bei der politischen Entscheidungsfindung dar. Aber vielleicht erleben wir nach der Krise ja einen Wandel weg von der Routine technisch rational getroffener Entscheidungen hin zu spürbar stärker diskursiven und reflexiven Formen der Wissensbasierung, die eine evidenzbasierte Politik stützen würden?* Insbesondere in Hinblick auf den Klimawandel und seine Folgen sowie mögliche Interventionen, aber auch in Hinblick auf bildungspolitische Fragen und Entscheidungen und viele andere Bereiche wäre das sicher nicht verkehrt.

Mit ein wenig neuer Motivation was die eigene Forschung betrifft, klemme ich mich am Abend also doch nochmal an die Literaturarbeit. „Wer forschen will, muss lesen.“ denke ich mir ein ums andere mal. Noch so eine Erkenntnis, die mir im NDR Podcast derzeit regelmäßig bestätigt wird. Nur wann und in welcher Geschwindigkeit Hr. Drosten die Fülle an täglich zitierten Studien liest und, wie ich mein Lesetempo an seines angleichen kann, bleibt mir bislang ein Rätsel.

* Interessanter Aufsatz zum Thema: Weiland, S. (2013). Evidenzbasierte Politik zwischen Eindeutigkeit und Reflexivität. Technikfolgen – Theorie und Praxis, 22(3), 9-15. Abrufbar unter: https://doi.org/10.14512/tatup.22.3.9

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen