Mittwoch, 9. Juni 2021

Ein bisschen Hoffnung

 25. Mai 2021

Fast hätte ich den Termin bei der Psychiaterin sausen lassen. Wieder habe ich eine mehr oder weniger schlaflose Nacht hinter mir, wieder fällt es mir schwer, am Vormittag aufzustehen. Dazu das Wetter: alle 20 Minuten wechselt es zwischen Regenschauer, Hagel, Gewitter und Sonnenschein. Ich hatte mir vorgenommen, mit dem Fahrrad zu fahren, aber ich möchte nicht klatschnass ankommen. Zum Laufen oder eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist es zu spät. Ob ich ein Taxi nehmen sollte? Ich habe in 31 Lebensjahren noch nie ein Taxi bestellt, ich weiß gar nicht, wie das geht.

Aber eigentlich sind das doch auch wieder alles nur Ausreden, rede ich mir ein, und krame die Regenhose raus. Vor der Haustür fallen noch dicke Tropfen, aber nur wenige Meter weiter ist der Himmel hell und ich komme halbwegs trocken bei der Praxis an.

Ich bin wirklich nervös heute und während andere Patientinnen sich über die lange Wartezeit aufregen, bin ich froh drum, noch eine Weile im Wartezimmer sitzen und lesen zu können. Nach knapp einer Stunde werde ich hereingerufen. Die Ärztin macht einen guten Eindruck. Sie ist mir zugewandt, wirkt einfühlsam/verständnisvoll und fachlich kompetent. Sie nimmt sich viel Zeit für das Gespräch, stellt zielgerichtet Fragen und macht sich Notizen. Während ich weinen muss, macht sie kurze Pausen, jedoch nie so lang, dass es unangenehm wird. Ich bin insgesamt froh, den Termin wahrgenommen zu haben und vielleicht war es eine glückliche Fügung, dass gerade in dieser Praxis – die ja auf der Liste der gesammelten Kontaktadressen die einzige war, in der mir überhaupt ein Termin angeboten wurde – geklappt hat.

Natürlich präsentiert die Ärztin keine Lösung auf dem Silbertablett. Und natürlich verändert sich durch den Besuch erst einmal: Nichts. Aber die Ärztin spricht mögliche Interventionen mit mir durch – therapeutisch und medikamentös – und stößt diese auch direkt an. Und das ist das wichtigste, denn dass es theoretisch Behandlungsmöglichkeiten gibt, das ist mir ja vollkommen bewusst.

So gehe ich mit zwei weiteren Terminen bei dieser und einer anderen Ärztin und einem Rezept für ein neues Medikament, das mir vielleicht ein wenig helfen könnte. Keine Soforthilfe, aber vielleicht ein wenig Hoffnung für die kommenden Wochen. Die werde ich schon durchhalten. Die wichtigsten Worte richtet sie zum Abschluss an mich: Sie sind jetzt Patientin in meiner Praxis, d. h., Sie können sich jederzeit melden und vorbeikommen. Und das bringt nun wirklich für den Moment Erleichterung.

 

08. Juni 2021

Mit der Reise nach Freiburg ist meine Tagebuch-Routine eingerissen. Die Tage waren zu ausgefüllt, aber das ist ja auch mal nicht schlecht. Und die Ablenkung, der Tapetenwechsel, die Begegnungen, die tiefen, vertrauten Gespräche überwogen der allgemeinen Anstrengung, die die Reise mit sich brachte. Ich bin also froh, dass ich gefahren bin.

Seit der Rückkehr sind nun acht Tage vergangen, in denen wiederum nicht viel passiert ist. Ich schlafe sehr viel, nachts und tagsüber, und frage mich, woher die ständige Müdigkeit kommt. Die Arbeit an der Dissertation gehe ich erstmal ruhig an. Auch die kleinen Schritte zählen und es muss nicht jeden Tag vorangehen. Ich schaffe es, täglich eine Runde auf dem Rennrad zu drehen oder alternativ Spazieren zu gehen, starte aber meist erst am späten Nachmittag. Einmal aufgerafft, sind das normalerweise ganz angenehme Zeitvertreibe, nur teilweise ziehen sich die Runden wie Kaugummi in die Länge. Dann ist mein Kopf so leer, dass ich ständig an die nächste Kurve denke. Und die nächste. Und die nächste. So kommt es, dass mir die Runde ewig erscheint. Und das Fahrtempo reicht auch nicht gerade an das heran, was ich letztes Jahr noch erreicht habe.

Vielleicht ist es einfach eine gedankliche Müdigkeit, denke ich. Aber vielleicht ist das besser, als ständiges Grübeln und im Negativ-Denken gefangen sein, denke ich weiter. Ob das neue Medikament schon wirkt? Mehr Antrieb habe ich bislang definitiv nicht, aber immerhin habe ich seit zwei Wochen nicht mehr geweint. Das berichte ich dann auch der Psychiaterin, die mich fürs Erste alle zwei bis drei Wochen zur Stippvisite erwartet. Sie scheint zufrieden. Wenn man am Boden liegt, kann man nicht mehr tief fallen. Und wenn man nach oben blickt, sieht man immer ein bisschen Licht.

In Berlin ist der Sommer ausgebrochen und ich habe mir angewöhnt, mich nach dem Radfahren 30 bis 60 Minuten in die Sonne zu legen. Zum Lesen und für den Vitamin D Spiegel. Und an den Abenden liege ich tatsächlich viel am Boden und blicke nach oben. Durchs Fenster oder auf den Computerbildschirm, auf dem abwechselnd Sportfernsehen oder eine Dokumentation läuft. Es gibt keinen Druck von außen und ich mache mir keinen von innen. Zumindest für den Moment nicht.

Die nächste Herausforderung, der ich mich stellen möchte und sollte, ist meine Kontakte wieder besser zu pflegen, Nachrichten schreiben, Telefonate führen, Verabredungen treffen. Aber ich gebe mir Zeit und bin unendlich dankbar über all das Verständnis, was mir in dieser Hinsicht immer wieder entgegen gebracht wird!