Sonntag, 29. März 2020

Isolation, Tag 11: Sorge vor Sorglosigkeit

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und heute antworte ich „Rennradfahren“.

Erst letzte Woche habe ich die Rennradsaison 2020 eingeläutet, ganz schön spät in diesem Jahr. Heute bange ich darum, dass sie bald eine jähe Unterbrechung erfahren könnte. Wie wahrscheinlich sind strengere Anti-Virus-Maßnahmen, bis hin zu einer Ausgangssperre, wie sie in anderen europäischen Ländern umgesetzt wurde? Ich kann es nicht einschätzen. Viele halten sich an die Vorgaben, viele missachten sie aber auch. So mein subjektiver Eindruck aus der Fahrradperspektive, Medienberichte werden ihn mir am Abend bestätigen (dennoch wird die Umsetzung der Maßnahmen seitens der Bevölkerung durch die Medien tendenziell positiv bewertet).

Ich fahre eine große Runde über Wannsee, Potsdam, Neu-Fahrland, Sacrow, Kladow, Gatow und Spandau, insgesamt 60 km. Ich genieße die frische warme Frühlingsluft, andere tun es mir gleich. „Sind wir zu unvorsichtig?“ frage ich mich und verwende dabei bewusst das Wort „wir“, denn ich selber bin ja auch noch täglich draußen unterwegs. Für mich nichts neues, die sportliche Betätigung ist seit langem fester Bestandteil meiner Tagesabläufe. Was mich wundert ist, wie viele andere Menschen unterwegs sind. Deutlich mehr als „früher“, so scheint es mir.

Spaziergänger, Jogger, Radfahrer – auch auf sonst eher oder sogar sehr verlassenen Abschnitten der Strecke begegnet mir gefühlt einer nach dem anderen. Ich merke, dass ich Groll gegen sie hege. „Was wollt ihr alle hier?“ frage ich mich. „Ihr seid doch sonst auch nicht hier unterwegs. Müsst ihr gerade jetzt eure Liebe zur Bewegung entdecken, jetzt, wo es doch eigentlich so sinnvoll wäre, weitestgehend zuhause zu bleiben?“ Bei nicht wenigen wirkt es tatsächlich so, als säßen sie seit Jahren zum ersten Mal wieder auf einem Fahrrad.

Ich habe schon verstanden, dass Bewegung an der frischen Luft grundsätzlich nicht das Problem darstellt. Es geht im Rahmen der Kontaktsperre darum, das Zusammentreffen von Menschen zu vermeiden, die im häuslichen Umfeld nicht zusammentreffen würden. Je mehr Menschen draußen unterwegs sind, desto schwieriger wird das natürlich. Bei weniger breiten Wegen ist schon das Einhalten des 1,5 m-Mindestabstands eine Herausforderung. Und nicht wenige scheinen die Notwendigkeit nicht zu erkennen, mir beim Entgegenkommen oder Überholenlassen ein bisschen Platz zu machen. Besonders aber ärgere ich mich über größere Gruppen, die auf den ersten Blick eher weniger nach Familie bzw. „Haushaltsgemeinschaft“ aussehen und untereinander natürlich keinen Abstand halten. Und über diejenigen (Gruppen), die sich den Vorgaben wiedersetzen, sich länger an einem Ort aufzuhalten. Kein längeres Verweilen auf Wiesen, Plätzen und Bänken, kein Picknick, kein Grillen, … das ist doch eigentlich nicht schwer zu begreifen.
Ich mochte es noch nie, wenn Menschen sich nicht an Regeln halten, aber heute ärgert es mich besonders. Und plötzlich beginne ich, mich über mich selbst zu ärgern. Ich ärgere mich über mein Urteilen bzw. Verurteilen der anderen. Über den Gedanken, sie sollten nicht hier sein. Über den Gedanken eines Platzrechts auf dieser Straße für Radfahrer, die bereits vor Ausbruch der Corona-Epidemie auf dieser Straße gefahren sind.

Und während ich mich so über meinen Ärger ärgere, beginne ich zu hinterfragen, was dahintersteckt. Und recht schnell wird mir bewusst, dass Sorge und Neid hinter meinem Ärger stehen. Sorge, dass zu viele von uns die Kontaktsperre auf die leichte Schulter nehmen und die Maßnahme sich dadurch als weniger wirksam erweisen wird, als wir es uns erhoffen. Aber auch Neid, dass ich die Kontaktsperre nicht wie andere auf die leichte Schulter nehmen und mich guten Gewissens mit Freunden treffen oder meine Familie besuchen kann.

Mit dieser Erkenntnis verzogen sich Groll und Ärger und selbstkritische Gedanken stellten sich ein. Es ist nicht meine Aufgabe, zu urteilen über Recht und Unrecht, zu kritisieren, zu entscheiden über das, was andere zu tun und zu lassen haben. Diejenigen, die sich schon jetzt nicht an die Regeln halten, werden es umso weniger tun, je mehr man ihnen den erhobenen Zeigefinger vors Gesicht hält. So hilft mein Ärger also weder mir, noch anderen. Statt mich zu ärgern, möchte ich in den nächsten Tagen umsichtig sein. Die Bedürfnisse und das Verhalten anderer respektieren und mich auf meine eigenen Bedürfnisse und mein eigenes Verhalten fokussieren. Die Sorge ein wenig sorgloser zu betrachten und darauf zu vertrauen, dass diejenigen, die die Regeln aufstellen und ihre Einhaltung kontrollieren, verantwortungsbewusst handeln und die Lage ausreichend kritisch einschätzen.

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