Freitag, 10. April 2020

Isolation, Tag 23: Vergänglichkeit

Es gibt Sätze, die in diesen Tagen ziemlich häufig fallen. Sätze zu Infektionszahlen („Wir können uns nicht in Sicherheit wiegen.“), zur Lage in den Krankenhäusern („Wir dürfen das Gesundheitssystem nicht überlasten.“) oder zu den Kontaktbeschränkungen („Wir müssen uns an die Regeln halten.“). Und immer wieder wird eine Frage gestellt: „Wie lange noch?“

Der wohl häufigste Satz, den ich in diesen Tagen aus der Berichterstattung heraus wahrnehme, beantwortet das so drängende „Wie lange noch?“ technisch nicht. Trotzdem wird er nicht selten als Antwort auf genau diese Frage eingesetzt: „Wir stehen immer noch ganz am Anfang.“ Sobald ich diesen Satz in diesen Tage höre, frage ich mich „Wie lange noch?“ – und die Katze beißt sich in den Schwanz.

Am Morgen lese ich ausnahmsweise mal wieder etwas intensiver ein paar aktuelle Meldungen und stolpere dabei über zwei neue Formulierungen. „Wenn jetzt die Beschränkungen aufgehoben werden, sind wir wieder ganz am Anfang“, sagt Viola Priesemann, eine Physikerin vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, die in einer Simulationsstudie die Auswirkungen der Kontaktsperren auf die Infektionszahlen untersucht hat.* Und der Brandenburger Ministerpräsident Dietmar Woidke konstatiert in Bezug auf die Debatte zur Lockerung der Regelungen: „Wir sind jetzt mittendrin in der Pandemie.“**

Also doch nicht mehr ganz am Anfang? Ich bin verwirrt und muss zugeben, dass mich die Rede vom „Anfang“ mittlerweile nervt. Durch das nicht absehbare „Ende“ fehlt einfach der Bezugsrahmen. Durch das nicht absehbare „Ende“ hat „ganz am Anfang“ einen ziemlich faden Beigeschmack. Vor 73 Tagen wurde erstmals eine Sars-CoV-2-Infektion in Deutschlang bestätigt. Vor 45 Tagen begann die Verbreitung im Kreis Heinsberg und das Wort „Quarantäne“ war plötzlich in aller Munde. Vor 24 Tagen wurden in Berlin und vielen anderen Bundesländern die Schulen geschlossen. Seit 23 Tagen pflege ich soziale Kontakte ausschließlich virtuell. Kann das wirklich noch „ganz am Anfang“ sein?

Ich werde unruhig und schiebe den Gedanken fürs erste beiseite. Heute ist Gründonnerstag, Ostern steht vor der Tür, Urlaub steht im Kalender und das Rennrad im Keller will bewegt werden. Nach der Brandenburg-Frustration vom Wochenende fahre ich heute wieder meine „Hausrunde“. Kronprinzessinnenweg, Havelchaussee, Heerstraße, Königsweg. Halb Straße, halb Radweg. Obwohl dieser direkt neben der Autobahn verläuft, ist es einer der besten und beliebtesten in Berlin (wenn nicht sogar der beste und beliebteste). Ich teile diese Einschätzung und bin trotzdem jedes Mal überrascht darüber, wie gering die Ansprüche an „gute“ Radwege in der Millionenstadt doch sein können – inkl. meine eigenen.

Der Radweg ist ziemlich dicht befahren, aber auf der Havelchaussee wird es ruhiger. Hier sind eigentlich fast nur noch Rennradfahrer unterwegs. Es ist eine der wenigen Straßen Berlins mit spürbaren Anstiegen. Das freut die Rennradler und lässt die Freizeitradler Abstand nehmen. In einfacher Ausführung umfasst meine Hausrunde 30 km, in doppelter 50 km, und am Ende bieten sich diverse Abstecher an, die in verschiedensten Längen zwischen 30 und 50 km resultieren. Ich entscheide mich heute für eine einfache Runde mit Abstecher über die Spinner-Brücke und durch Schlachtensee, sodass zurück zuhause 38 km auf dem Tacho stehen.

Beim Radfahren beschäftigen mich dann auch wieder ganz banale Dinge. So stelle ich unter anderem fest, dass das Elasthan in meiner Radhose sich langsam aufzulösen beginnt. Das ist mir schon nach der letzten Wäsche aufgefallen. Angesichts akuter Unlust, nach einer neuen Hose zu suchen, hatte ich es aber erstmal erfolgreich verdrängt. Jetzt sehe ich sie ganz deutlich, diese kleinen Gummipünktchen, die aus dem Stoff hervortreten und mir signalisieren, dass dieser wohl nicht mehr lang seine Form behalten wird. Wie bei den alten Badeanzügen, die man nach Jahren im Schrank genau aus diesem Grund aussortieren muss.

Die Radhose ist leider meine einzige, ich habe sie 2013 gekauft und habe sie seitdem auf vielen tausend Fahrradkilometern strapaziert. Zwar hatte ich zwischendurch durchaus mal nach einer zweiten zum Wechseln gesucht, gefunden habe ich bislang aber keine. So geht es mir mit unzähligen Lieblingsteilen. Klamotten, die ich seit 3, 5, 7 oder sogar seit 17 Jahren trage, füllen meinen Kleiderschrank und das liegt nicht daran, dass ich zu selten ausmiste, sondern daran, dass es mir so schwer fällt, sie zu ersetzen. Auf dem T-Shirt, das ich mir nach dem Duschen anziehe, steht der Name meines ehemaligen Gymnasiums. Ich war 12 oder 13 als diese T-Shirts gedruckt wurden. Das Schullogo auf dem Rücken ist lange nicht mehr aktuell und löst sich wie das Elasthan in der Radhose nach und nach auf. Zwei kleine Löcher sind mir zuletzt schon aufgefallen, heute entdecke ich am Ärmel ein weiteres.

So oder so ähnlich ging es mir in den vergangenen Monaten mit einigen Lieblingsteilen. Sie zollen dem Dauertragen Tribut, verlieren Form und Farbe und bekommen Löcher. Sie machen mich aufmerksam auf ihre Vergänglichkeit. Und ich wehre mich dagegen, diese Vergänglichkeit zu akzeptieren. Nicht, weil ich die alten Klamotten besonders schön finde. Der Spleen ist eigentlich nur darauf zurückzuführen, dass ich mich in ihnen zumindest einigermaßen wohl fühle, während ich mir in neuen Klamotten oft auf lange Zeit ziemlich verkleidet vorkomme. Nur selten habe ich in den letzten Jahren überhaupt neue Lieblingsteile gefunden. Also trage ich sie trotzig weiter, die löchrigen T-Shirts, formlosen Pullover und zerrissenen Hosen und schere mich nicht darum, wie (un)zuträglich dies meinem äußeren Erscheinungsbild ist und was andere darüber denken.

Und die Radhose? Die müsste wohl doch bald ersetzt werden. Mehr als das Wohlfühlen zählt hier die Funktionalität und in diesem Fall ist Vergänglichkeit leider nicht nur mit optischen Einbußen verbunden. Aber bislang steht die Auflösung des Elasthans ja noch „ganz am Anfang“. Die Frage ist nur: „Wie lange noch?“

* https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-forscher-legen-erste-zahlen-zur-wirksamkeit-von-kontaktsperren-vor-a-f87cbd96-acb7-4013-8ae4-652b45008d65
** https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/04/woidke-brandenburg-warnung-lockerungen-ausgeangsbeschraenkungen.html

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