Mittwoch, 8. April 2020

Isolation, Tag 21: Schwindendes Zeitgefühl

„Und was machst du so?“ fragen wir uns und wir teilen unsere Erfahrungen über Messenger, auf Blogs, in Podcasts, in Videos, … Und ich antworte: „Guten-Morgen-Hangout mit einer Freundin, laufen, einkaufen, meine Pflänzchen versorgen, an der Dissertation arbeiten, mit Freunden, Bekannten und Arbeitskolleginnen chatten, häkeln, Medien konsumieren, …“

Heute beginnt es mich zu langweilen. Nicht die Dinge an sich, sondern das Tagebuch schreiben. Mir der sinkenden Volatilität der Situation sinken auch meine wechselhaften Blickwinkel auf ebendiese und die tiefgründigen Gedanken darüber. Aus meinem Isolationsalltag gibt es gefühlt nicht viel zu berichten. Vielleicht lege ich ein paar Tage Pause ein. „Im Norden nichts Neues“ war der Arbeitstitel des heutigen Beitrags. Stattdessen entscheide ich mich für „Schwindendes Zeitgefühl“.

Die Erlebnisse auf meiner morgendlichen Laufrunde sind spektakulär unspektakulär. Trotz bestem Wetter scheinen nicht besonders viele Menschen unterwegs zu sein, eher so viele, wie an einem sonnigen Dienstagvormittag „vor Corona“. Die meisten Läufer scheinen solche zu sein, die auch „vor Corona“ schon einigermaßen regelmäßig gelaufen sind. Vielleicht hat ein erster Teil der „erst seit dem Corona-Lockdown Läufer“ das Laufen als neues Hobby bereits wieder aufgegeben. Vielleicht beginnt sich meine subjektive Wahrnehmung von „vor“ und „während Corona“ aber auch zu vermischen und in Wirklichkeit waren an sonnigen Dienstagvormittagen „vor Corona“ doch noch deutlich weniger Menschen unterwegs.

Egal, wenig Menschen bedeutet auch: Bahn frei für ein flottes Tempo. Aber heute tragen mich die Beine nicht wie gewohnt und ich bin ziemlich langsam unterwegs. Das hat zur Folge, dass ich mich darin verliere, die Umgebung zu analysieren. Was hat sich in den letzten Monaten verändert, was in den letzten Wochen, was seit dem letzten Lauf? Es ist stetig heller und wärmer geworden, die Natur ist aus dem Winterschlaf erwacht, Knospen und Blätter wachsen, man sieht wieder mehr Vögel im Wasser und in der Luft, Jogger und Spaziergänger sind immer leichter bekleidet. Der See ist klar, am Ufer wiegt sich das Schilfrohr im Wind, in den kleinen Buchten tummeln sich Familien, Paare und Menschen, die wie ich alleine unterwegs sind. Die ersten von ihnen wagen sich ins Wasser und läuten die Badesaison ein. Im See beobachtet man zwar ganzjährig Schwimmer, aber heute sind es augenscheinlich das erste Mal nicht die ganz Abgehärteten, sondern solche, die im Herbst und Winter auf das Baden verzichten und erst im Frühjahr wieder damit beginnen. Während ich so um den See trabe, stelle ich mal wieder fest, dass es in meinem Bezirk Ecken gibt, an denen man sich wirklich wie im Urlaub fühlen kann. Insofern habe ich es mit dem Zwangsurlaub in der Isolation definitiv noch sehr gut erwischt!

Nach dem Laufen und Duschen ziehe ich los, um ein zweites Mal die Einkäufe für meine Nachbarn zu erledigen und bin erstaunt, dass seit dem ersten Mal schon wieder fast eine Woche vergangen ist. Mein schwindendes Zeitgefühl bestätigt sich in der Konversation mit einer Freundin, mit der ich mich gestern (Montag) für eine Videokonferenz verabredet habe. Ich schrieb von „Mittwoch oder Donnerstag?“, wir verständigten uns auf „morgen“, sie rechnete folglich mit heute, ich ging jedoch von Mittwoch aus. Klingt kompliziert, ist es auch. Wenn uns kein zweites Missverständnis dazwischen kommt, sollte die Videokonferenz dann aber morgen stattfinden.*

Am Abend backe ich Brötchen mit meinem vor acht Tagen angesetzten Hefewasser. Diesbezüglich hatte ich die Zeit zumindest noch ganz gut im Blick. Das (/die Brötchen) geht (/gehen) erstaunlich gut (auf), was auch daran liegen könnte, dass ich dem Hefewasser misstraut und ein halbes Päckchen Backpulver in den Teig geschmuggelt habe. Am Ende des Tages sitze ich mit meinem Häkelprojekt und meinen frisch gebackenen Brötchen auf dem Sofa, schaue Youtube-Videos, mache mir nochmal klar, dass heute Dienstag und am Sonntag Ostern ist und habe das Gefühl, dass es mir insgesamt gerade irgendwie noch viel zu gut geht …

*Um das Verständnis des Missverständnisses zu erleichtern oder es völlig unverständlich zu machen: Die Blogartikel erscheinen um einen Tag zeitversetzt. Ich schreibe gerade von Dienstag, zu lesen ist der Beitrag aber erst Mittwoch. Aus eurer Sicht heute findet also die Videokonferenz statt, die wir am Montag für „morgen“ geplant hatten. Aus eurer Sicht morgen, also am Donnerstag, sollte auf dem Blog dann zu lesen sein, ob alles geklappt hat.

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