Die letzten Tage waren aufwühlend. Zu Beginn der Woche ging es mir gar nicht gut und ich habe mich krank gemeldet. Aus dem Bett bin ich nur sehr schwer gekommen, zu sehr hing ich in einer Spirale von Negativgedanken fest mit dem Gefühl, es lohnt sich nicht, aufzustehen und dagegen anzukämpfen.
Dann erreichen mich die Nachrichten von den
Bränden im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos. Die Bilder überfordern
mich, es fällt schwer sie einzuordnen. Mein eigenes Leid, meine Sorgen, meine
Befindlichkeiten, meine Unzufriedenheit kommen mir plötzlich so belanglos vor.
Habe ich das Recht, mich in meiner – im Vergleich zu weiten Teilen der
Weltbevölkerung – überaus privilegierten Situation „schlecht“ zu fühlen? Mich
zu beklagen? Um Hilfe zu bitten?
Was sollen dann erst die Menschen sagen, die ohnehin
schon wochen-, monate-, jahrelang ohne echte Existenzgrundlage leben? Die in
völliger Ungewissheit vor dem „Nichts“ standen und nun – von heute auf morgen –
vor noch viel mehr „Nichts“ stehen. Klar ist: Wir haben alle unsere Sorgen,
Stress auf der Arbeit, physische, psychische oder psychosomatische Beschwerden,
finanzielle Nöte, … die Liste könnte beliebig fortgeführt werden. Aber da sind
unschuldige Menschen in Not von jetzt auf gleich in eine noch viel größere Notlage
geraten, aus der sie sich aus eigener Kraft wohl kaum befreien können.
Ich verfolge die Nachrichten in der Hoffnung,
auf hoffnungsvolle Bekanntgaben. Die Bundesregierung wird helfen, deutsche
Kommunen werden Flüchtlinge aus Moria aufnehmen. Schnell soll es gehen und es
sollen mehr sein als ursprünglich geplant, sagen die einen. Aber: Es braucht
eine „europäische Lösung“. Es muss schneller gehen, es sind immer noch zu wenig, Deutschland
soll eigenständig handeln, sagen die anderen.
Ich fühle mich nicht informiert genug, um zu urteilen über Recht und Unrecht der einen oder der anderen. Gleichzeitig drängt sich mir
das Gefühl auf, dass in diesem Fall kaum über Recht und Unrecht entschieden
werden kann. Zu viele Zusammenhänge sind zu beachten, zu viele Interessen
wollen vertreten werden, zu viele Personengruppen sind beteiligt, zu viele
Auswirkungen müssen abgeschätzt werden. Mit welcher Haltung begegnen wir
Menschen in Not? Und wie können wir verhindern, dass immer mehr Menschen ihre
Existenzgrundlage verlieren? Das sind wohl mit die größten Fragen der
Gegenwart. Einfache Antworten gibt es nicht.
Ich habe weder die mentale Stärke vor Ort zu
helfen, noch bin ich gewillt, mich hier politisch zu engagieren oder auf die
Straße zu gehen und zu demonstrieren. Ich habe ja gar keine klare Meinung, was
denn nun „getan“ werden soll, getan werden kann, getan werden muss. Man müsste
was tun, denke ich mir, und im selben Atemzug frage ich mich: Was kann ich
schon tun? Und wird es nicht immer weiter Elend, Krankheit, Krieg und Armut
geben? Sind humanitäre Katastrophen wie diese überhaupt zu verhindern? Und wenn
ja, werden wir dann nicht eh von anderen eingeholt? Attentate/Terroranschläge,
Naturkatastrophen, die Corona-Pandemie … die Nachrichten sind doch schon lange
voll von bedrohlichen Ereignissen. Vergessen wir sie zu schnell und handeln wir
zu wenig? Die Explosion im Hafen von Beirut ist gerade mal einen Monat her und
hierzulande schon fast kein Thema mehr, obwohl der Hafen noch lange in Trümmern
liegen wird. Da wo es am stärksten brennt, schauen wir hin – so funktionieren
unsere Medien. Oder ist vergessen, verdrängen, sich nicht verantwortlich
fühlen, vielleicht doch die beste Strategie, um das Gefühl von Hilflosigkeit zu umgehen und den
Weltschmerz irgendwie zu ertragen? Und wenn ja, „darf“ man das?
Am Wochenende ist meine Familie zu Besuch in
Berlin. Wir haben ein paar Unternehmungen geplant, werden die Gärten der
Welt in Marzahn besichtigen, im Frohnauer Umland wandern, über den Markt in
Zehlendorf schlendern. Ich bemühe mich, die Zeit zu genießen, mich auf die Gesellschaft,
die Gespräche, das Programm ein- und meine Schwermut für eine Weile
loszulassen. Es fällt mir auch an diesen Tagen schwer, aufzustehen und dem
Abendprogramm entziehe ich mich zumindest an zwei von drei Tagen. Aber
ansonsten gelingt es mir wohl einigermaßen, mich zu beteiligen. Depression ist
auch: Aufstehen, Zähne putzen, arbeiten, Sport machen, Freunde/Familie treffen,
über Scherze lachen. Funktionieren, sich nichts anmerken lassen / sich
zusammenreißen einerseits, und andererseits die Gunst der Stunde und/oder
kleine Energieschübe nutzen, um sich selbst ein wenig abzulenken. Das ist immer
anstrengend, aber es sind auch immer sehr wertvolle und schöne Momente, die wir
miteinander erleben, und ich bin jedes Mal dankbar über das große Verständnis,
das mir und meinen Stimmungen dabei entgegengebracht wird.
In den Gesprächen kann ich auch ein paar meiner
Gedanken über die Katastrophe auf Lesbos teilen. Das Gefühl, etwas tun zu
wollen. „Es gibt nichts Gutes. Außer: Man tut es“ – mein Vater zitiert Erich
Kästner und überlegt, etwas Geld an eine Hilfsorganisation zu spenden. Und ich
treffe am Abend die Entscheidung, mich bei einer Organisation anzumelden, die Bildungspatenschaften
zwischen Ehrenamtlichen und sozial benachteiligten Schülern*innen mit
Migrationshintergrund vermittelt. Die Welt werde ich damit nicht verändern, das ist mir bewusst. Vielleicht aber meine Weltsicht, mein Gefühl, nichts bewirken zu können, mit
meinem Handeln keinen sinnvollen Beitrag für eine bessere Welt zu leisten.
Direkt im Anschluss erhalte ich eine automatisch
generierte Willkommens-Mail mit einer Bestätigung der Anmeldung und der Aufforderung,
über das Online-Terminbuchungstool einen Termin für ein Kennenlerngespräch zu
vereinbaren. Und nun bin ich tatsächlich aufgeregt und ganz gespannt, auf
dieses neue Projekt. Dieses Gefühl hatte ich schon lange nicht mehr.
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