Samstag, 12. September 2020

Depression, Weltschmerz, Familienbesuch und Tatendrang

Die letzten Tage waren aufwühlend. Zu Beginn der Woche ging es mir gar nicht gut und ich habe mich krank gemeldet. Aus dem Bett bin ich nur sehr schwer gekommen, zu sehr hing ich in einer Spirale von Negativgedanken fest mit dem Gefühl, es lohnt sich nicht, aufzustehen und dagegen anzukämpfen.

Dann erreichen mich die Nachrichten von den Bränden im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos. Die Bilder überfordern mich, es fällt schwer sie einzuordnen. Mein eigenes Leid, meine Sorgen, meine Befindlichkeiten, meine Unzufriedenheit kommen mir plötzlich so belanglos vor. Habe ich das Recht, mich in meiner – im Vergleich zu weiten Teilen der Weltbevölkerung – überaus privilegierten Situation „schlecht“ zu fühlen? Mich zu beklagen? Um Hilfe zu bitten?

Was sollen dann erst die Menschen sagen, die ohnehin schon wochen-, monate-, jahrelang ohne echte Existenzgrundlage leben? Die in völliger Ungewissheit vor dem „Nichts“ standen und nun – von heute auf morgen – vor noch viel mehr „Nichts“ stehen. Klar ist: Wir haben alle unsere Sorgen, Stress auf der Arbeit, physische, psychische oder psychosomatische Beschwerden, finanzielle Nöte, … die Liste könnte beliebig fortgeführt werden. Aber da sind unschuldige Menschen in Not von jetzt auf gleich in eine noch viel größere Notlage geraten, aus der sie sich aus eigener Kraft wohl kaum befreien können.

Ich verfolge die Nachrichten in der Hoffnung, auf hoffnungsvolle Bekanntgaben. Die Bundesregierung wird helfen, deutsche Kommunen werden Flüchtlinge aus Moria aufnehmen. Schnell soll es gehen und es sollen mehr sein als ursprünglich geplant, sagen die einen. Aber: Es braucht eine „europäische Lösung“. Es muss schneller gehen, es sind immer noch zu wenig, Deutschland soll eigenständig handeln, sagen die anderen.

Ich fühle mich nicht informiert genug, um zu urteilen über Recht und Unrecht der einen oder der anderen. Gleichzeitig drängt sich mir das Gefühl auf, dass in diesem Fall kaum über Recht und Unrecht entschieden werden kann. Zu viele Zusammenhänge sind zu beachten, zu viele Interessen wollen vertreten werden, zu viele Personengruppen sind beteiligt, zu viele Auswirkungen müssen abgeschätzt werden. Mit welcher Haltung begegnen wir Menschen in Not? Und wie können wir verhindern, dass immer mehr Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren? Das sind wohl mit die größten Fragen der Gegenwart. Einfache Antworten gibt es nicht.

Ich habe weder die mentale Stärke vor Ort zu helfen, noch bin ich gewillt, mich hier politisch zu engagieren oder auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Ich habe ja gar keine klare Meinung, was denn nun „getan“ werden soll, getan werden kann, getan werden muss. Man müsste was tun, denke ich mir, und im selben Atemzug frage ich mich: Was kann ich schon tun? Und wird es nicht immer weiter Elend, Krankheit, Krieg und Armut geben? Sind humanitäre Katastrophen wie diese überhaupt zu verhindern? Und wenn ja, werden wir dann nicht eh von anderen eingeholt? Attentate/Terroranschläge, Naturkatastrophen, die Corona-Pandemie … die Nachrichten sind doch schon lange voll von bedrohlichen Ereignissen. Vergessen wir sie zu schnell und handeln wir zu wenig? Die Explosion im Hafen von Beirut ist gerade mal einen Monat her und hierzulande schon fast kein Thema mehr, obwohl der Hafen noch lange in Trümmern liegen wird. Da wo es am stärksten brennt, schauen wir hin – so funktionieren unsere Medien. Oder ist vergessen, verdrängen, sich nicht verantwortlich fühlen, vielleicht doch die beste Strategie, um das Gefühl von Hilflosigkeit zu umgehen und den Weltschmerz irgendwie zu ertragen? Und wenn ja, „darf“ man das?

Am Wochenende ist meine Familie zu Besuch in Berlin. Wir haben ein paar Unternehmungen geplant, werden die Gärten der Welt in Marzahn besichtigen, im Frohnauer Umland wandern, über den Markt in Zehlendorf schlendern. Ich bemühe mich, die Zeit zu genießen, mich auf die Gesellschaft, die Gespräche, das Programm ein- und meine Schwermut für eine Weile loszulassen. Es fällt mir auch an diesen Tagen schwer, aufzustehen und dem Abendprogramm entziehe ich mich zumindest an zwei von drei Tagen. Aber ansonsten gelingt es mir wohl einigermaßen, mich zu beteiligen. Depression ist auch: Aufstehen, Zähne putzen, arbeiten, Sport machen, Freunde/Familie treffen, über Scherze lachen. Funktionieren, sich nichts anmerken lassen / sich zusammenreißen einerseits, und andererseits die Gunst der Stunde und/oder kleine Energieschübe nutzen, um sich selbst ein wenig abzulenken. Das ist immer anstrengend, aber es sind auch immer sehr wertvolle und schöne Momente, die wir miteinander erleben, und ich bin jedes Mal dankbar über das große Verständnis, das mir und meinen Stimmungen dabei entgegengebracht wird.

In den Gesprächen kann ich auch ein paar meiner Gedanken über die Katastrophe auf Lesbos teilen. Das Gefühl, etwas tun zu wollen. „Es gibt nichts Gutes. Außer: Man tut es“ – mein Vater zitiert Erich Kästner und überlegt, etwas Geld an eine Hilfsorganisation zu spenden. Und ich treffe am Abend die Entscheidung, mich bei einer Organisation anzumelden, die Bildungspatenschaften zwischen Ehrenamtlichen und sozial benachteiligten Schülern*innen mit Migrationshintergrund vermittelt. Die Welt werde ich damit nicht verändern, das ist mir bewusst. Vielleicht aber meine Weltsicht, mein Gefühl, nichts bewirken zu können, mit meinem Handeln keinen sinnvollen Beitrag für eine bessere Welt zu leisten.

Direkt im Anschluss erhalte ich eine automatisch generierte Willkommens-Mail mit einer Bestätigung der Anmeldung und der Aufforderung, über das Online-Terminbuchungstool einen Termin für ein Kennenlerngespräch zu vereinbaren. Und nun bin ich tatsächlich aufgeregt und ganz gespannt, auf dieses neue Projekt. Dieses Gefühl hatte ich schon lange nicht mehr.

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