Sonntag, 8. März 2015

Das Wesen der Magersucht

verstehen, können glaube ich die Wenigsten. Das Ausmaß des Verständnisses von Angehörigen, die sie vollkommen unmittelbar miterleben, Medizinstudenten, denen die Thematik im Studium begegnet, Ärzten, die sich damit befassen, sogar von Psychotherapeuten und ja, auch meines als Betroffene, ist definitiv begrenzt. Selbst für mich gibt es noch so viele Aspekte dieser Krankheit, die ich mir nicht erklären kann. Aber bei den Dingen, die mir bewusst sind, habe ich teilweise das Bedürfnis sie zu erklären, mich zu erklären, zu erklären, warum ich was wann wie tue, wie ich mich fühle und weshalb ich mich so absurd verhalte. Das Schreiben als Prozess des Erarbeiten von Erklärungen ist dabei sehr hilfreich (und wird sogar als anerkanntes therapeutisches Mittel eingesetzt). Nur manchmal macht es mich etwas hilflos, weil ich das Gefühl habe nicht `alles` geeignet in Worte fassen zu können und mir das Geschriebene im Nachhinein zu lückenhaft oder zu sehr auf zu wenige Punkte fokussierend erscheint.

Das ist nicht der einzige Grund, warum ich bei diesem Artikel ein wenig unsicherer bin, was die Veröffentlichung auf dem Blog betrifft, als bei den bisherigen. Er lässt noch etwas tiefer in meine Gefühlswelt blicken, aber ich glaube viel entscheidender ist der Einblick in mein darauf aufbauendes Verhalten, denn das wiederum ist für mich viel schambehafteter als das emotionale Erleben. Darüber hinaus fühle ich mich hierbei absolut verantwortlich etwas zu ändern, gleichzeitig ist genau das vielleicht die größte Herausforderung. Weil ich mich über die drei unheimlich lieben Kommentare zu meinem letzten Post wirklich aufrichtig gefreut habe, es toll ist zu sehen, dass das was ich schreibe mit Interesse gelesen wird, ich weiß, dass auch Familie und Freunde ab und zu (und hoffentlich auch aus Interesse) mitlesen und nicht zuletzt einfach irgendwie auch für mich selber, schreibe/veröffentliche ich auch diesen.

Meine Magersucht, ein hart erarbeitetes, wohl entwickeltes, exakt definiertes Konzept, bricht gerade in sich zusammen. Und damit fehlt die Funktion, die es mir erfüllt hat. Unter auf ein Minimum begrenzter Nahrungszufuhr kennt der Körper im Wesentlichen nur ein Gefühl: Hunger. Man versetzt sich in eine Art Automatismus. Man funktioniert, man tut, man „schafft“, aber man bekommt nicht viel davon mit. Die ganze Ebene des Empfindens ist auf eine recht eigentümliche Art und Weise vernebelt. Und insbesondere deswegen ist es ab einem gewissen Grad unheimlich schwierig (auf therapeutischer Ebene) noch Zugang zu sich selbst, vor allem zu seinen Bedürfnissen zu finden. Wenn doch das scheinbar einzige, wichtigste, umfassendste Bedürfnis ist, sich selbst wieder zu nähren/ernähren - zu essen…

Ich weiß, dass es in zwei Wochen in der Klinik ohnehin keinen Weg mehr geben wird, Nahrungsaufnahme in Form „normaler“, „sinnvoller“ Mahlzeiten zu verweigern (oder dass ich diese nicht einschlagen möchte, sollte es Wege geben). Also habe ich in letzter Zeit begonnen, mich mit diesem Gedanken anzufreunden und auch denjenigen Willkommen geheißen, ein wenig zu üben, hier und da mal essen zu gehen, neues auszuprobieren und mich zu überwinden mein tägliches Kalorienlimit zu steigern, denn ich gebe es ganz offen zu: Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich kein Verlangen habe zu essen, ganz im Gegenteil: man beschäftigt sich gedanklich permanent damit. Was man alles essen könnte, wann, mit wem, wie nett es doch wäre, wenn … ob dieses/jenes gut schmecken könnte, was man morgen essen könnte, übermorgen, Weihnachten, Ostern, Geburtstag, da wird man sich sicher mal etwas gönnen…. Es ist unheimlich anstrengend - und es ist doch eigentlich eine schöne Aussicht, sich nun endlich einfach davon zu befreien.

Aber wie gesagt, es erfüllt eine Funktion und auch wenn mir das vorher schon bewusst war, werde ich gerade schmerzlich an diese erinnert, indem ich merke was bei Nicht-Erfüllung passiert. Ich esse - aber es ist nicht das, was mich „glücklich“ macht. Dieser Gedanke der Magersucht (rein rational gesehen ist mir natürlich auch vorher klar gewesen, dass er nicht richtig und so vor allem ganz vereinfacht und überspitzt ausgedrückt ist) „wenn ich essen würde, wäre ich glücklich/zufrieden“ - stellt sich als der größte Irrtum des ganzen Konstrukts dar. Der Schutz, der einem der Hungerzustand geboten hat, diese Ausrede - man kann ja gar nicht fröhlich, munter, aktiv, leistungsfähig, … sein - wird hinfällig und man ist gezwungen sich damit zu beschäftigen, warum man es wirklich nicht ist. Denn das Hungern ist eben nicht der tatsächliche, der grundlegende Grund. Und deswegen wird nach dem Essen erstmal alles noch viel schlimmer. Der Nebel lichtet sich und das was als Erstes kommt, hat nicht viel mit Energie und Lebensfreude zu tun, sondern mit dem genauen Gegenteil. Einerseits setzt man sich unter Druck. Man hat ja gegessen, also müsste man doch zufrieden sein. Jetzt hat man doch Kraft, müsste Dinge unternehmen, könnte dieses oder jenes erledigen… Andererseits merkt man, dass es die Gesamtsituation, die Gegebenheiten, die Umstände sind, die irgendwie nicht „stimmen“. Man fällt in eine Art Loch, es ergibt sich eine merkwürdige, hilflos machende, belastende Leere, denn nach wie vor fehlt etwas. Man merkt, dass es nicht das Essen war, was einem gefehlt hat.

Und das ist auch gut so! „Es geht darum zu Essen um zu Leben und nicht darum zu Leben um zu Essen“, daran wurde ich gestern durch ein Video erinnert. Mit anderen Worten: Essen soll nicht das sein, was glücklich macht. Essen soll in erster Linie lebensfähig machen und das Leben, das soll befriedigen. Wenn es das nicht tut, ist Hungern nicht mehr als ein wirksames Instrument sich davon abzulenken. Genau diese Wirksamkeit macht es so schwierig, davon Abstand zu nehmen und es tut gut zu wissen, dass ich in der Klinik nicht nur dabei unterstützt werde, das Essen wieder zu beginnen, sondern mit Beenden der Strategie des Hungerns hoffentlich auch dabei, mich mit meinen Gefühlen, Ängsten, Bedürfnissen, … wohl schlicht und ergreifend mit allem, was zum Leben dazu gehört, auseinanderzusetzen.

Alle, die bis hierhin durchgehalten haben, kommen nun abschließend noch in den Genuss einer visuellen Darstellung der Magersucht. In Anlehnung an die Fotoreihe „Anorexie: Daily Essentials“ habe ich darüber nachgedacht, was denn eigentlich meine „wichtigsten Gebrauchsgegenstände im Umgang mit der Essstörung“ sind. Was assoziiere ich unmittelbar mit der Erkrankung? Worauf kann ich nicht verzichten? Und welche Utensilien geben mir in meinem Alltag Halt und helfen mir im Kampf gegen die Essstörung? Hier mein Foto:


Tage-/Notizbücher, Wärmeflasche, lange Unterhose, Küchenwaage, Salz, koffeinfreier Kaffee, Möhren

5 Kommentare:

  1. Danke für deine offenen Worte. Ich wünsche dir ganz viel Kraft für deinen weiteren Weg.
    Noch einen tollen Sonntag
    Liebe Grüße Jessi

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  2. Liebe Sarah,
    in Deinem Artikel sind einige neue Gedanken für mich dabei, und es beeindruckt mich, wie offen Du mit der Krankheit umgehst - nicht nur anderen gegenüber, sondern vor allem Dir selbst. Ich bin zwar nicht selbst betroffen, aber diese Gedanken, wenn nur dies und das wäre, dann wär doch alles einfach und schön, die kenne ich auch gut. Mir hat es sehr, sehr geholfen, mit mir selbst freundlich umzugehen wie mit einer Freundin, die ich gernhabe. Ich streite nicht mehr mit mir, und ich bin zwar manchmal durchaus harsch und ruppig und ein bisschen feldwebelartig, aber nicht gemein, nie verächtlich, ich mache mich selbst nicht runter, denn so würde ich auch mit einem anderen nicht umgehen. Das hat viel verändert. Bei Rückschlägen gleich welcher Art nehme ich mich eher selbst in den Arm, statt mich anzublaffen, tröste mich, baue mich auf, sehe zu, dass ich Kraft sammle, um es dann erneut anzugehen, und tatsächlich geht so alles leichter.
    Dass es nicht leicht sein kann nach längerer Zeit im Hungernebel, das ist auch klar. Ein Glück, dass Du Deine Freude am Schaffen hast, ich glaube, das hilft zeitweise sehr. Danke für Deinen klugen Artikel und viel Kraft und vor allem Freude wünsche ich Dir - Kraft klingt immer so anstrengend und verweist auf die Arbeit, die in allem steckt, und Freude schafft dieselbe Arbeit mit links, ohne dass es sich wie Arbeit anfühlt. ;)

    Alles Liebe
    Maike

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  3. Sehr, sehr aufschlussreich für mich... die ich ja auch an einer Essstörung leide, an einer Art Binge würde ich sagen, aber da ich nicht extrem dick bin, sondern nur so "normal dick", werde ich da nicht ernstgenommen. Essen ist aber ein großes Problem für mich und ich wünsche mir nichts mehr, als dass Essen das wird, was es sein sollte: Nahrungsaufnahme, und sonst nix. Und das wünsche ich dir auch. Alles, alles Gute und viel Kraft! LG, nina.

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  4. Liebe Sarah,
    ich bewundere deinen Mut, hier so offen zu schreiben.
    Mit deiner Krankheit kenn ich mich nicht aus. Mir fehlen das Wissen, das Erleben der Krankheit, die Worte.
    Aber ich hoffe, du willst leben. Dann findest du einen Weg. Daran glaube ich ganz fest.
    Ich wünsche dir viel Mut, großen Willen und viel Kraft!
    LG Malu

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  5. Liebe Sarah!

    Ich bin von Deiner Stärke beeindruckt. Du bist toll... Bis morgen! :-)

    V.

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